Das Gewitter wurde abgesagt – wir gehen Wandern! Endlich! Nach fast zwei Wochen mehr oder weniger Dauersitzens im Bus sehnen wir uns nach Bewegung! Wie könnten weder eine Karte noch eine Tourenbeschreibung für den Llogara Nationalpark finden, aber wir haben einen Wanderwegweiser mit der Aufschrift „4.6 Km, 1.45 h bis zum Qafa e Thellë“ gesehen. Wir beschließen, dem Weg zu folgen – Qafa heißt „Pass“, das verspricht Höhenmeter und schöne Blicke. Wir werden nicht enttäuscht. Auf einem schmalen Trail geht es mehr als eineinhalb Stunden bergauf, der Steig ist nicht schwierig, erfordert aber jede Sekunde Konzentration, da es keinen Meter ohne Steine, Wurzeln oder wegen des vielen Regens der letzten Tage matschige, rutschige Stellen gibt. Beine und Gehirn sind gefordert. Orientierungssinn nicht: Wir hatten gelesen, dass Wanderwege in Albanien nicht so gut gepflegt und ausgewiesen sind wie bei uns – für diesen hier zumindest stimmt das nicht. Er ist exzellent gekennzeichnet und führt uns durch einen verwunschenen Wald sicher auf den Pass. Von hier oben aus bewundern wir einmal mehr die Schönheit der Landschaft, Nebelfetzen ziehen immer wieder über die Gipfel rechts und links von uns und werden genauso schnell wieder von der Sonne aufgelöst. Es ist still und weit und wunderschön.
Nach dem Abstieg halten wir noch kurz bei Aldrin, unserem Gastgeber von letzter Nacht. Nehmen Wasser auf und trinken noch einen schnellen Kaffee, als plötzlich aus der Stille des Nachmittags zwei Herren mit Anzügen – einer mit einem feinen Lächeln, der andere mit einem Hollywood-Strahlen – auf die abgesehen von uns leere Bar zustreben. Aldrin springt hinter seinem Tresen hervor, der Anzugmann mit dem feinen Lächeln, der aussieht wie Luis de Funes, macht auf den Stufen der Bar ein Foto von Aldrin Arm in Arm mit dem Hollywood-Strahler. Die Herren setzten sich in eine Ecke der Bar, Aldrin zaubert blitzschnell zwei Gläser Raki auf den Tisch vor ihnen und stürmt dann im Laufschritt in die Küche, um Minuten später mit einem Teller Snacks zurück zu sein. Das müssen wichtige Männer sein. Der Strahler winkt fröhlich zu uns herüber, Luis de Funes lächelt fein.
Wir haben unseren Kaffee ausgetrunken und gehen hinüber zu den Herren, um uns von Aldrin zu verabschieden. Der Hollywoodmann springt auf, ergreift unsere Hände und schüttelt sie wild.“ Welcome to my country!“ ruft er. Und erklärt uns, dass er – so verstehen wir das zumindest – eine Art österreichisch-albanischer Kulturbotschafter für die Region Vlora (in der der Nationalpark liegt) sei. „Wie gefällt es Euch in Albanien? Ist es nicht wunderschön? Und die Menschen? So freundlich! Das komplette Gegenteil von dem, was Ihr in den Medien über Albanien hört, richtig?“ Wir denken genau das, und auch wenn wir dieses Feedback lieber selbst gegeben hätten, anstatt es uns von ihm in den Mund legen zu lassen, bestätigen wir seine Worte aus Gründen, die nichts mit Höflichkeit zu tun haben. Bisher haben wir sein Land genau so erlebt, wie er es beschreibt. Er strahlt und ist völlig begeistert von seiner Mission. Wir müssen noch aufs Foto mit ihm – dann brechen wir endlich auf, es ist schon später Nachmittag und unser Weg noch weit. Kaum fünf Minuten später braust ein silberfarbener Audi A7 mit 70 km/h (man darf hier 40 fahren) an uns vorbei Richtung Vlora – darin die Anzugmänner. Die ganze skurrile Begegnung, vom Auftauchen vor der Bar bis zum halsbrecherischen Überholmanöver jetzt, hat vielleicht zehn Minuten gedauert – wir suchen immer noch nach der versteckten Kamera.
Am im Licht des frühen Abends glitzernden Meer entlang wendet sich unser Weg hinter der Bucht von Vlora nach etwa einer Stunde ins Landesinnere und zieht sich durch ein Licht- und Farbensspiel von Wolken, Himmel, Feldern, sattgrünen Hügeln und Bergen rechts und links. Immer entlang eines breiten, flachen, von Felsenbänken durchzogenen Flusses. Hier und da ein Verkaufsstand für Obst und Gemüse am Rand der glatten Asphaltstraße, ein oder zwei Mal ein Restaurant ohne dazugehöriges Dorf. Ansonsten kaum Zeichen von Besiedlung. Es wird immer dunkler und wir sind noch eine Fahrstunde von dem Übernachtungsplatz entfernt, den wir herausgesucht haben. Nicht gut. Wir hatten gelesen (und inzwischen auch selbst gesehen), dass in Albanien viel gebaut wird an den Straßen, die Baustellen aber oft nur schlecht ausgewiesen und gesichert sind. Bei Dunkelheit sollte man daher keine unbekannten Wege mehr fahren, um nicht versehentlich in einem Loch in der Straße zu landen.
Dann ist sie da, die Dunkelheit. Und wir noch 19 KM auf einer inzwischen sehr schmalen aber weiterhin gut asphaltierten Nebenstraßen von unserem Platz für die Nacht entfernt. Wir schauen rechts und links, ob wir nicht einfach abseits der Straße halten können, aber es gibt nur die Straße. Keine Flächen oder Abzweigungen längs des Weges. Nico ist entspannt. Wir fahren halt so lange, bis wir irgendwo was finden, meint er. Als wir an der Stelle am Fluss ankommen, die wir für die Nacht vorgesehen hatten, stellen wir bei der Begehung fest: viel zu steil und ausgewaschen für unseren schwach motorisierten Bus ohne Allrad. Weiter geht es durch die Dunkelheit. Ein kalter Dreiviertelmond bescheint die pechschwarzen Bergkämme, Wolken jagen über den Nachthimmel und verstecken den Mond immer wieder. Es ist menschenleer. Die Straße wird immer schmaler – und dann ohne Vorwarnung zur Schlaglochpiste. Wir fahren Schrittempo. Zwei alte Mercedes überholen uns kurz nacheinander im Eiltempo. Die kennen sich aus. Irgendwann erreichen wir den zweiten Stellplatz, den wir herausgesucht haben.
Es ist fast halb elf. Wir rollen auf die grasige Fläche über dem Fluss, wenden, um in Fahrtrichtung zu stehen – und erfassen mit den Scheinwerfern einen großen, zotteligen Hund, der unter einem Betonmonument liegt, das irgendein Kommunist seinerzeit hier aufgestellt haben muss, und sich das Fell leckt. Die Scheinwerfer sind ihm völlig egal, wir offenbar auch. Von unserem Freund Markus, der vor ein paar Jahren mit dem Rad durch Albanien und Mazedonien gefahren ist, wissen wir, dass es hier viele wilde Hunde gibt, mit denen nicht immer zu spaßen ist. Dieser sieht komplett entspannt aus, nichts an seiner Körpersprache deutet auf erhöhte Wachsamkeit, geschweige denn Angriffslust hin. Trotzdem fühlen wir uns unsicher. Das hier ist schließlich sein Revier und wir sind die Eindringlinge. Aber wir beschließen zu bleiben. Ich husche aus dem Bus, Nico drückt mir das Pfefferspray in die Hand, das wir vor der Abreise in einem Anfall von Wahrhaftigkeitsbedürnis angeschafft haben. Ich lade schnell alles, was hinten stört, für die Nacht auf den Beifahrersitz und hole unsere Schlafsäcke aus dem Kofferraum. Der Hund interessiert sich nicht die Bohne für mein Gewerkel. Nico huscht vom Fahrersitz zu mir nach hinten – und da hocken wir. Verschanzt in unserem Bus. Mit einer kleinen Flasche Bier in der Hand, die wir uns teilen (bloß nicht nachts pinkeln müssen…), irgendwo in der albanischen Pampa, eingeschüchtert von einem gähnenden Hund. Wir wollten Abenteuer – heute hatten wir Abenteuer.
Dann geht das Kino los. Ein vorwurfsvolles Kläffen von der anderen Straßenseite nähert sich. Einer weiße Hündin erscheint im Mondlicht vor unserem Bus. Und bellt weiter. Schaut in alle Richtungen, bellt. Schaut nicht uns an. Geht an unserem Bus vorbei Richtung Monument. Der andere Hund liegt weiter bequem auf seinem Platz, die Hündin ist offenbar keine Fremde. Sie bellt weiter halb motiviert vor sich hin, scheint aber nicht uns zu meinen. Dann hören wir ein Fiepen und Winseln. Und plötzlich tolpatscht ein ein kleines helles Fellknäuel von der dunklen Straße auf den mondbeschienenen Rasen Ein Welpe. Die Hündin bellt lauter, der gemütliche Hund schweigt weiter. Nico übersetzt: „Erwin, jetzt sag Du doch auch mal was!“ Erwin erhebt sich endlich unter seinem Monument und bellt auch mal. Zufrieden zieht die Hündin mit ihrem Welpen ab, über die Straße zurück, wohin auch immer. Erwin wufft noch ein paar Mal und rollt sich dann wieder auf seinem Schlafplatz zusammen. Wir machen unseren Bus fertig für die Nacht, ohne noch einen Fuß hinaus zu setzen. Ich gewinne den Limbo-Award für den Aufbau eines 1.40 x 2.00-Meter-Bettes in einem 1.50 x 2.50-Meter großen Rraum. Wir schlafen verdammt gut für die Umstände – Erwin passt auf.
Und liegt am nächsten Morgen immer noch auf seinem Platz. Na toll. Ich muss pinkeln. Ich ringe mit mir. Es kann doch nicht sein, dass ein harmloser Hund uns zu Gefangenen im eigenen Bus macht. Das macht wohl eher unser Kopf. Unsere mangelnde Erfahrung. Ich öffne die Schiebetür. Erwin erhebt sich gemächlich und trottet um unseren Bus herum. Immer noch keinerlei Anzeichen von Agression. Egal. Wir geben es dran und verzichten auf Mutproben. Nico schlängelt seine 1.91 Meter von hinten auf den Fahrersitz und wir fahren mit aufgebauten Bett ein paar Hundert Meter ins nächste Dorf. Halten am Straßenrand und bauen den Bus in den Tagesmodus zurück. Eine Frau führt zwei Kühe an uns vorbei. Ein Esel iat. Ein alter, verwitterter Mann treibt seine Schafherde an uns vorbei, grüßt freundlich. Zwei Katzen prügeln sich im Garten auf der anderen Straßenseite. Über uns strahlt die Morgensonne, auf der anderen Flussseite erhebt sich eine schneebedeckte Bergkette. Wir mögen das Land immer mehr.