Verflixte Freiheit

Ich komme nicht an. Seit vier Tagen sind wir nun auf der Reise, und ich fühle mich jämmerlich verloren. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte. Sicher nicht, dass das Reisen sofort zur neuen Realität wird. Dass ich sofort den Unterschied spüren würde zwischen einem ganz normalen Urlaub und diesem unüberschaubar großen Ding „Weltreise ohne Zeitlimit“. Aber ich hatte schon irgendwie angenommen, dass es sich gut anfühlen würde. Frei. Aufregend. Voller Aufbruchstimmung.
Unser Abschied von zuhause hätte zumindest keine bessere Startvoraussetzung bieten können. Mit Wehmut, aber auch mit ganz viel „Endlich geht es los“-Gefühl haben wir uns in den letzten Wochen nach und nach von Familie, Freunden, Arbeitskollegen verabschiedet. Uns reich gefühlt, weil wir so viele wunderbare Menschen in unserem Leben haben, die uns mit Anteilnahme, Mitfiebern, warmen Worten und Umarmungen auf die Reise geschickt haben. Nach all den harten Monaten, die hinter uns liegen, seit Corona unsere Pläne durcheinander geworfen hat, war es ein tolles Gefühl, so in das große Abenteuer begleitet zu werden. Freitagabend, nachdem alle Abschiede hinter uns lagen, saßen wir sehr müde bei einem Glas Rotwein in einem Restaurant in unserem alten Viertel in Düsseldorf, in dem wir gerne essen waren, als wir da noch gewohnt haben, und mussten immer wieder ungläubig lachen. Da war er endlich, der Start in unser neues Leben.

Und jetzt? Sitzen wir bei kühlen Temperaturen und leichtem Nieselregen auf einem zugigen Berg in Frankreich, irgendwo im Massif des Bauges, Nico kocht Chili mit Kürbis und pfeift dabei vergnügt vor sich hin, ich hocke auf meinem Lieblingsplatz, in der offenen Schiebetür des Busses und hadere mit mir. Warum bin ich nicht leicht? Vorfreudig? Abenteuerlustig? Warum hätte ich Montagmorgen am liebsten meine Arbeitsmails aufgerufen, um mich irgendwie auf vertrautem Terrain zu fühlen? Ich habe in den letzten Tagen versucht, mir Zeit zu geben. Während wir durch Belgien und Luxemburg nach Frankreich hinein gefahren sind. Immer Richtung Süden. Begleitet von einem sommerlich warmen Frühherbst. Unser erstes Lagerfeuer entfacht haben. An einem lauschigen Plätzchen an der Moselle schon nachmittags um drei die Beine hochgelegt und in der Sonne ein Buch gelesen. Die Kirche von Le Corbusier in Ronchamps besucht (ganz ehrlich: die braucht dringend einen Topf weiße Farbe, Sichtbeton altert nicht gerade vorteilhaft…). Während all dieser Zeit habe ich gedacht „Ist okay, dass sich das noch ungewohnt anfühlt. Stress‘ Dich nicht mit irgendeiner Erwartung.“ Aber ich war noch nie so der Achtsamkeitstyp, und Geduld ist auch nicht meine starke Seite – ich will, dass es sich JETZT irgendwie benennbar anfühlt. Wenigstens wie Urlaub könnte es sich doch anfühlen, oder?


Ich glaube, es liegt daran, dass wir weder ein festes Ziel noch einen zeitlichen Rahmen haben. Wir sind maximal frei und, verdammt, ist das ungewohnt, nachdem seit Jahrzehnten immer irgendeine Pflicht, ein Terminplan, eine zu erledigende Aufgabe meinen Alltag strukturiert hat. Und im Urlaub hat das Wissen um die Endlichkeit dieser kurzen, kostbaren Zeit dafür gesorgt, dass ich jeden Moment voll ausgekostet habe. All diese Endlichkeitsmarker fehlen jetzt. Und der Grat zwischen maximaler Freiheit und maximaler Beliebigkeit ist schmal. Die eigene Haltung allein entscheidet darüber, zu welcher Seite sich die Stimmung neigt. Ich schätze also, unsere Aufgabe in den nächsten Wochen wird nicht sein, von A nach B zu fahren und schöne Dinge zu entdecken, sondern uns diese neuen Spielregeln zueigen zu machen.

Und ein paar Mal ist sie tatsächlich auch schon durchgeblitzt, die Erkenntnis, dass ab jetzt nur noch wir über uns bestimmen. Kein Job, keine Verpflichtungen, keine Zwänge. Nur Entscheidungen. Und für mich als gnadenlose Optimistin ist klar, dass das auf lange Sicht ein verdammt großes Geschenk ist, das wir nach Kräften genießen werden. Wer weiß, vielleicht fühlt sich die Schlucht von Verdon, die wir gerade ansteuern, und mit der ich seit Jahre  eine Rechnung offen habe (mein erster Versuch vor ein paar Jahren, dort zu wandern, ist vom Dauerregen unterspült worden) oder danach Sardininen, von dem wir uns Sonne, la dolce Vita und endlich mal ein paar Tage am Stück am selben Ort versprechen, schon mehr nach der Freiheit an, wie ich sie mir seit drei Jahren in leuchtenden Farben ausmale.

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