Ur-Getüme

Eine gewaltige Wirbelsäule hebt die Wasseroberfläche an, zerteilt sie und gleitet dann wieder, Wirbel für Wirbel, in die Tiefe. Dunkelgraue Haut glitzert in der Sonne. Dann ist das Meer wieder glatt. Eine kreisrunde Verwirbelung auf der Oberfläche von mehreren Metern Durchmesser lässt erahnen, wie gewaltig die Bewegung tief darunter im Wasser sein muss. Der stille Mann mit den sonnengegerbten Gesicht und dem gelben Windbreaker, der uns und eine Handvoll anderer Gäste in einem winzigen Motorboot über die Lagune von Ojo de Liebre navigiert, dreht das Boot ein wenig bei. Zwanzig Meter weiter teilt der Grauwal erneut die Wasseroberfläche. Ein leises Schnaufen, Wasser pufft in einer Fontäne nach oben. Der Rücken krümmt sich, gleitet durch quecksilberfarbene Wellen, wird immer schmaler – und dann erhebt sich seine Fluke über das Quecksilber. Meerwasser läuft in Strömen daran herunter, bevor sie ganz langsam wieder in den Fluten versinkt.

Früh sind wir heute Morgen aufgestanden, um die Wale zu sehen. Ein heftiger Regenschauer scheucht uns zunächst zurück in die Busse (genau, Mehrzahl. Wir sind seit ein paar Tagen wieder zusammen mit Anna und Anne von PerspektiVan unterwegs und haben die letzte Nacht direkt in der Bucht von Ojo de Liebre verbracht). Aber nach einer Stunde ist es soweit aufgeklart, dass wir entschlossen Richtung Anlegesteg stapfen. Tickets für die Tour kaufen, uns die grell orangefarbenen Schwimmwesten umschnallen und unter den strengen Blicken einiger Pelikane in das schwankende Holzboot steigen. Angetrieben von einem kleinen Außenbordmotor hinaus aufs Meer tuckern.

Jedes Jahr zwischen November und März ziehen tausende der riesigen Meeressäuger von der kalten Beringsee in die wärmeren Gewässer des Pazifiks in den Lagunen der Westküste von Baja California. Paaren sich dort und bringen nach 13 Monaten Tragzeit auch dort ihre Babys zur Welt. Dann brechen sie wieder auf in die kälteren und nahrungsreicheren Gewässer der Arktis. 13 000 Kilometer legen die Tiere auf diese Weise Jahr für Jahr zurück. Vor allem Grauwale, aber auch vereinzelt Blau- und Buckelwale. Jetzt, Mitte Januar, sind in der Laguna Ojo de Liebre erst etwa 20 Grauwale unterwegs. In ein paar Wochen werden es hunderte der bis zu 20 Meter langen und 40 Tonnen schweren Tiere sein. Uns reichen die, die da sind, voll und ganz. Denn dadurch, dass sie zum Luftholen immer wieder an die Oberfläche kommen müssen, ist es eher eine Frage der Zeit als eine Frage ihrer Zahl, das wir sie zu Gesicht bekommen. Mit geübtem Blick späht unser Bootsmann über die seichten Wellen, in denen sich der wilde Wolkenhimmel nach dem Regenguss von vorhin spiegelt. Und steuert auf eine plötzlich hochschießende Fontäne zu, der erst ein großer grauer Rücken folgt – und dann eine kleine Fontäne und ein kleiner grauer Rücken. Eine Wal-Dame mit ihrem Kalb! Ich bin entzückt – meine erste Begegnung mit diesen Wesen, und dann gleich Mutter und Kind!

Immer wieder steuern wir in den nächsten zwei Stunden vorsichtig die Fontäne an. Meine anfängliche Sorge, dass wir den Tieren zu sehr zu Leibe rücken und sie verschrecken, scheint unbegründet: Sie lassen sich gar nicht stören von uns. Vielleicht nehmen sie uns Winzlinge in unserer Nussschale gar nicht als ernstzunehmende  Verkehrsteilnehmer auf dem Meer wahr? Mein Nacken schmerzt und meine Augen tränen vom ständigen Absuchen des Meeres. Die Planken, auf denen wir im Boot sitzen, sind hart und unbequem, aber das wird mir erst nachher auffallen, wenn ich wieder im Bus sitze. Ich bin völlig fasziniert von den Wal-Erscheinungen. Als irgendwann ein nicht enden wollender Leib unter dem kleinen Boot hindurch taucht, stockt mir der Atem vor Ehrfurcht.

Es herrscht eine fast sakrale Stille auf unserem Boot. Nur ab und zu unterbrochen vom Brummen des Außenborders, wenn wir ein Stück weiter tuckern, oder von einem entzückten Seufzen oder Rufen, wenn wieder eine Wirbelsäule in den Wogen auftaucht. So still, so friedlich, dieser Ausflug. Das Meer und diese gewaltigen Ur-Getüme – magisch. Und kurz, bevor wir umdrehen, noch ein Spektakel, dem wir leider nur aus einigen hundert Metern Entfernung beiwohnen. Das ich vor meinem inneren Auge aber beinahe in Nahaufnahme abspielen kann. Unser Bootsmann unterbricht auf einmal sein Schweigen und zeigt aufgeregt rufend Richtung Horizont. Und da erhebt sich ein gigantischer Leib über die Wasseroberfläche. Nicht nur die Schnauze, wie wir es schon ein paar Mal gesehen haben. Der ganze Wal schraubt sich, alle Gesetze der Physik aushebelnd, über die Wasseroberfläche, scheint einen Moment in der Luft zu schweben – und klatscht dann zurück ins Wasser. Aus unserer Entfernung nur so groß wie mein Daumen. Aber ich schwöre, ich sehe das in Technicolor und Zeitlupe. Wir haben auf dieser Reise wirklich schon eine Menge besonderer Momente erlebt. Aber diese Wal-Tour spielt in ihrer eigenen Liga.

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