Ich werde von einem warmen Licht geweckt. Ziehe den Vorhang ein Stück zur Seite. Und blicke direkt in die Morgensonne. Zum ersten Mal, seit wir unterwegs sind, stehen wir nicht unter Bäumen, im Schatten einer Feldwand oder wachen unter einen verhangenen Himmel auf. Ich klettere aus dem Bett und in meine Kleidung, Daunenjacke an, Mütze auf und raus aus dem Bus. Es ist acht Uhr morgens und wir haben die Nacht auf einem Platteau oberhalb von Cabasse verbracht, auf dem die kleine Kapelle Notre Dame du Glaive steht. Eineinhalb Kilometer schlaglochzerfressene Steinpiste haben uns gestern hier hochgeführt – und die Rumpeltour hat sich sowas von gelohnt! 360 Grad Rundumblick, Abendsonne und außer einem kleinen Bus weiter hinten kein anderes Fahrzeug weit und breit. Die Kapelle haben wir gestern links liegen lassen, jetzt gehe ich die paar Schritte in der kalten Morgenluft dorthin. Sie sieht magisch aus im frühen Licht. Eckig und schlicht, alt und verwunschen und wie aus der Zeit gefallen. Davor ein großes Holzkreuz, unter dem Maria ihren toten Sohn auf dem Schoß hält. Alle drei von Wind und Wetter gezeichnet. Etwas weiter links die verfallenden Reste eines steinernen Altars und einiger halbrunder Sitzreihen. Dahinter schlängelt sich der Weg noch ein paar Meter weiter Richtung niedrigen Gestrüps – und als ich ich dort ankomme, stehe ich plötzlich am Rande des Felsplatteaus, tief unter und vor mir breiten sich sanfte Weinfelder aus bis zur nächsten Hügelkette weit in der Ferne. Was für ein Anblick!
Den ganzen Tag über trödeln wir auf dem Platteau herum. Sitzen in der Sonne, hören Musik, schauen uns Fotos der vergangenen Tage an, Nico macht uns mittags Veggieburger mit allem Zipp und Zapp und gedünstete Champignons dazu. Mehr als eine Woche lang sind wir schon unterwegs und haben uns nie gehetzt. Ich habe es nach mehr als zwanzig Jahren morgendlicher Eile genossen, morgens keinen Zeitdruck zu haben, einfach in Ruhe in der Tür auf meinem Lieblingsplatz zu sitzen und einen Kaffee zu trinken. Aber so richtig NICHTS gemacht haben wir auch nicht, dazu taugten entweder das Wetter oder der Standort nicht. Das heute erscheint mir wie ein erster Ausblick, wie das Leben in Zukunft werden könnte. Ich bin bisher nicht besonders gut im Nichtstun (Nico ist da Vollprofi, seit Jahren bewundere ich seine Fähigkeit, Raum und Zeit zu vergessen und einfach nur im Hier und Jetzt zu sein, während mir der Nachmittag mit einem Buch neulich an der Moselle schon irgendwie gezwungen vorkam nach den durchgetakteten letzten Jahren), aber ich glaube, es lohnt sich, das wieder zu lernen. Früher konnte ich schließlich auch ganze Wochenende lang in den Geschichten meiner Bücher verschwinden, es ist also möglich.
Erst am späten Nachmittag brechen wir auf, die Rumpelstrecke wieder hinab und Richtung Toulon, von dort soll uns die Fähre heute Nacht nach Porto Torres auf Sardinien bringen. Am Hafen geordnetes Chaos, PKW, Wohnmobile, Motorräder und sogar Quads werden von den Ordnern nach einem System in Reihen dirigiert, das nur sie verstehen. Dann fragt uns ein Ordner nach einem Dokument, mit dem wir erklären, dass wir kein Corona haben. Wir zeigen eifrig unsere Registrierung, die wir vorgestern bei der italienischen Regierung gemacht haben. Nein, das ist nicht das richtige Dokument. Ob wir einen Covid 19-Test haben? Auch nicht? Der junge Mann drückt uns aus einem dicken Stapel unter seinem Arm (wir sind also nicht die einzigen, die unzureichend vorbereitet sind – wer weiß, wann sie diesen neuen Papierkram eingeführt haben) zwei Formulare in die Hand, die wir ausfüllen sollen. Eng beschrieben in 8-Punkt-Schrift – auf Französisch und Italienisch. Wir sprechen beides nicht. Der Mann schaut ratlos und empfiehlt uns dann, es mit dem französischen Formular zu versuchen. Mit Hilfe des Google-Übersetzers finden wir heraus, dass wir irgendwas im Zusammenhang mit Corona eidesstattlich erklären. Wir tragen hilflos ein paar Dinge in die vorhandenen Lücken ein und setzen ein paar Kreuze – keine Ahnung, ob sie uns damit morgen nach Italien reinlassen….
Jetzt sitze ich in unserer Kabine auf dem schmalen Bett. Die „Mega Smeralda“ rollt im Seegang leise hin und her, mein Magen meckert. Zum Glück ist die Kabine so winzig, dass es im schlimmsten Fall nicht weit ins Bad ist… Adieu, Frankreich, Du hast uns – trotz einiger stürmischer Stunden – bezaubert mit Wein- und Lavendelfeldern, schmalen Landstraßen durch Orte, in denen die Zeit stehen geblieben schien, exzellent ausgestatteten riesigen Supermärkten voll mit Leckereien, durch die wir uns durchgetestet haben, sanft wogenden Hügeln und schroffen Felsen – und einem Herzen für Wildcanper! Nicht ein einziger, der sich daran gestört hätte, wenn wir mittags am Straßenrand gepicknickt oder irgendwo unser Lager für die Nacht aufgeschlagen haben, immer nur ein freundliches „Bonjour“. Merci!