Tiefs

36 Stunden lang bin ich Nico und Linda mit meiner schwarzen Laune auf die Nerven gegangen. Nach dem Zwischenfall mit der Polizei haben wir zwei Nächte auf einem Mini-Stellplatz an der Schlucht von Gorropu verbracht, legal aber nicht sehr heimelig. Samstag war es kalt, stürmisch und regnerisch und der Tag war so unfreundlich, wie man es sich nur vorstellen kann (Tief Birgit ist schuld, wie Linda im Internet herausfindet). Nach einem tapfer draußen gekochten und verzehrten Abendessen haben wir uns zu dritt in den Bus verkrochen und die Heizung angeschmissen, die Whiskey-Flasche rausgeholt und Mau Mau gespielt. Ging erstaunlich gut, das Büsschen ist ein Raumwunder, wenn’s drauf ankommt.
Der nächste Morgen begrüßt uns freundlicher. Nico hat keine Lust zu Wandern, er will endlich mal die Salzkruste von Mr. Norris runterwaschen, die wir uns in den zwei Tagen am Meer eingefangen haben. Linda und ich wollen die Schlucht von Gorropu erwandern. Es wird ein fantastischer Tag, die Schlucht ist riesig und tief und großartig. Wir staunen nach einem eineinhalbstündigen Abstieg, der nicht ganz ohne ist, nur ein bisschen über die großen Gruppen von Italienern, die offenbar ihren Sonntagsausflug auf den Grund der Schlucht verlegt haben und mit Kind und Kegel dort unten lagern. Bis wir auf der andere Seite wieder aufsteigen und feststellen, dass der Weg von da im Vergleich ein Spaziergang ist. Aber auch nicht halb so schön – kaum Ausblicke in die Schlucht und die majestätische Landschaft darum herum, wie wir sie beim Abstieg hatten. Da war der anstrengende Weg definitiv der lohnendere! Als wir am frühen Abend keuchend wieder an unserem Ausgangspunkt ankommen, haben wir 18 Kilometer und 1.000 Höhenmeter in den Beinen und jede Menge schöner Bilder im Kopf.

Und belohnen uns in dem kleinen Hotel neben unserem Stellplatz mit einem sardischen Abendessen, bei dem wir keinen Gang auslassen: fünf verschiedene Schinken- und Salami-Variationen als Vorspeise (auch wenn wir sehr selten Fleisch essen, für lokale Spezialitäten sind wir immer bereit, eine Ausnahme zu machen, zumal wenn wir den ganzen Tag lang die Ziegen und Rinder um uns herum durch die Hügel laufen sehen – da schweigen sowohl unser ökologisches Gewissen als auch die Instanz, die sich Sorgen um das Tierwohl macht); Hirtensuppe aus Ziegenjoghurt mit Bohnen und allerlei anderen Zutaten als Hauptgericht und eine riesige Portion Tiramisu zum Nachtisch. Auch der sardische Digestiv (dessen Namen ich mir auch nach mehrfacher Nachfrage nicht merken kann) fehlt nicht. Alles serviert von einem liebenswürdigen Wirt und seiner Frau, die über unser fehlendes Italienisch hinwegsehen und uns geduldig auf Englisch beraten. Wir sind warm und satt und glückliich.
Als wir gestern dann aber den kleinen Platz verlassen, knüpft meine Stimmung nahtlos an den ungemütlichen Samstag an. Wir fahren nach Nuoro, ein Bergstädtchen eine Dreiviertelstunde entfernt, da wir dort auf der Karte einen Waschsalon gefunden haben – dringend nötig nach zweieinhalb Wochen im Bus. Alles funktioniert prima, aber weder diese Tatsache noch das Mittagessen in dem postkartenklischeehaften italienischen Restaurant, mit dem wir uns die Wartezeit auf die Waschmaschinen vertreiben, können das beklommene Gefühl verdrängen, das sich in meiner Brust festgesetzt hat. Ich fühle mich gehetzt. Ungeschützt. Ohne Rückzugsort. Nachwirkungen der Begegnung mit der Ordnungsmacht?
Für den Abend haben wir bei Park4Night lange nach einem Stellplatz gesucht, der möglichst wenig gemein hat mit dem, von dem wir vertrieben wurden. Eine Rezension spricht davon, dass auf dem Platz, den wir schließlich für den Abend ansteuern, das Campen für eine Nacht geduldet wird. Als wir dort ankommen, finden wir keinen Beleg für diese Behauptung. Linda sucht auf der Karte, ob sie in der Gegend einen Platz ausmachen kann, der zumindest auf dem Satelliten nach einem abseitig und geschützt gelegenen Ort aussieht, an dem wir für die Nacht stehen könnten. Zwei Stunden lang fahren wir mehrere Orte an – ohne das Gefühl zu haben, dort wirklich gut und ungestört zu stehen. Also beschließen wir, auf dem Parkplatz am Park zu bleiben, den wir ursprünglich angesteuert haben.
Der Platz befindet sich ziemlich auf dem Präsentierteller, hier gehen die Leute mit ihren Hunden oder Kindern spazieren, ein paar Autos parken auch, ohne dass wir die Beweggründe der Insassen erkennen können. Wir trauen uns nicht, ein richtiges Camp aufzubauen. Hocken geduckt und bei minimalem Licht vor dem Bus, und Nico bereitet auf dem Gaskocher Tomaten für Bruschetta zu – IM Bus. Das haben wir bisher nicht mal bei schlechtem Wetter gemacht, aber nichts soll nach Campen aussehen, also schlucken wir auch dieser Kröte. Ich fühle mich elend und will nur noch ins Bett. Will allein sein, mir die Decke über den Kopf ziehen und mich nicht mehr so schutzlos und ausgeliefert fühlen. Da der Ort aber so wenig Privatsphäre bietet und Linda hier weder ein Zelt noch ein Biwak aufbauen kann, kriechen wir schließlich zu dritt auf unsere 1.40 m breite Matratze. Draußen parkt ein abgedunkeltes schwarzes Fahrzeug ohne Licht und mit leise laufendem Motor, aber ich bin viel zu leer, um mir darüber noch Gedanken zu machen.

Wir schlafen erstaunlich gut zu dritt auf dem schmalen Lager. Der neue Tag heute begrüßt uns mit Sonnenschein. Beim Frühstück fragt Nico mich zum wiederholten Mal, ob wir in ein Hotel sollen oder auf einen Campingplatz für ein paar Nächte. Er und Linda haben meine schwarze Stimmung mit bemerkenswerter Geduld ertragen, sich nicht anstecken lassen und ihre Zuversicht und ihre Freude am Lagerleben aufrecht erhalten. Aber das hilft mit alles nichts, ich empfinde ein ganz grundlegendes Bedürfnis nicht erfüllt: das nach Sicherheit. Nachdem ich einen ganzen Tag lang auf diesem Gefühl herumgegerübelt habe, mache ich ihm beim Frühstück Luft. Klage Nico und Linda mein Leid und erkläre, dass mir ein Hotel überhaupt nichts nützen würde, weil es die Auseinandersetzung mit unserer neuen Realität nur verzögern würde. Weil es das Problem ja auch nur verschieben, aber nicht lösen würde. Die beiden sehen das anders, argumentieren, dass ein wenig Ruhe und geschützte Zeit zum Nachdenken durchaus helfen könnten. Ich bleibe stur bei meiner harten Linie, dass ich da jetzt halt einfach durch muss. Merke aber schon beim drüber Reden, dass das Gefühl besser wird, wenn ich es einfach mal ausspreche.
Was mir nicht in den Kopf will: Warum empfinde ich die ersten drei Wochen dieser Reise so anders als unsere bisherigen Reisen? Wir waren schon mehrfach ein paar Wochen auf diese Weise unterwegs, mit den selben Herausforderungen im Hinblick auf Wetter, Komfort, Stellplatz- und Wassersuche. Ich habe das nie als Belastung empfunden geschweige denn mich dabei schutzlos gefühlt. Das irritiert mich. Ich bin von mir selbst genervt. Viel lieber möchte ich Familie und Freunden in diesem Blog schöne Geschichten erzählen. Nicht dieses selbstbezogene Gehadere, sondern Geschichten von schönen Orten, lustigen Begegnungen, besonderen Momenten. All das erleben wir schließlich auch. Wo ist mein sonst so unverwüstlich positiver Blick auf die Dinge geblieben? Erwähnte ich, dass ich von mit selbst genervt bin?

Acht Stunden später stehen wir an einem Forsthaus. Der nette Förster erlaubt uns, die Nacht auf dem Parkplatz zu campen. Davor haben wir fünf Stunden lang auf einer Aussichtsplattform mit großartigem Blick über das Tal gesessen  – was als kurzer Foto-Stopp geplant ist, wird für mich zum entspannten Arbeitstag auf einer Parkbank (unglaublich, wie sehr mich die Routine, ein paar Texte für einen langjährigen Auftraggeber zu schreiben, erdet), Linda und Nico chillen in der Sonne und genießen den faulen Tag. Ein langes Telefonat mit meinem Bruder, ein fetter Einkauf im Supermarkt und eine Fahrt durch das Hinterland des Supramonte-Gebirges im Abendlicht – und so langsam komme ich wieder zu mir. Wir albern zu dritt herum, als wir unser Camp aufbauen, Nico nimmt mich in den Arm und sagt: „Schön, dass Du wieder da bist .“ Uff. Keine Ahnung, wie viele solcher Tiefs noch kommen und gehen müssen, bis ich mich in diesem neuen Leben nicht mehr fremd fühle…

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