Sommerferien-Momente

Wehmütig werfe ich einen letzten Blick auf das kleine Haus mit den dicken Steinmauern, wie es da kurz vor der Biegung in der schmalen Gasse zwischen den anderen, ebenfalls rund 300 Jahre alten Häuschen geduckt in der Nachmittagssonne liegt. Jenseits des Dorfes ziehen graue und weiße Wolken hinter den Ausläufern des Dikti-Gebirges empor. Grillen zirpen, ansonsten nichts als sonntägliche Stille in Limnes. Neun Tage lang haben wir hier, am Rande der Lasithi-Hochebene und nur zwanzig Fahrminuten vom Meer entfernt, zusammen mit unseren Freunden in dem Steinhaus gewohnt. Beim Einzug konnte ich es nicht ausstehen – zu düster, zu hellhörig, zu wenig Platz für sechs Personen und viel zu viele Spitzendeckchen, Vasen, Tonkrüge, Strohblumen und sonstiger Nippes auf jeder freien Fläche. Aber in den neun Tagen haben wir die Mauern und den verwunschen kleinen Innenhof hinter dem Haus mit so vielen schönen Erinnerungen gefüllt, dass mir der Abschied jetzt schwer fällt. Vor zehn Minuten sind Linda, Moni, Florian und Felix in ihrem weißen Mietwagen um die Ecke und außer Sicht verschwunden, sie fliegen heute nach Köln zurück. Nico und ich stehen neben Mr. Norris und schauen uns an. Das waren intensive drei Wochen, all die vielen Sommerferien-Momente müssen wir erstmal sacken lassen. Kaum zu glauben, dass es erst drei Wochen her ist, dass unsere gemeinsame Reise mit einem feucht-fröhlichen Abend in Heraklion begann. Zwischen diesem und dem feucht-fröhlichen letzten gemeinsamen Abend gestern im Innenhof liegen diverse Frühstücksstunden, Planungsrunden, Wandertouren, Höhenmeter, Bergblicke im goldenen Abendlicht, Schwimmzüge im azurblauen Meer, Salz- und Sandspuren auf nackten Armen und Beinen, eine Mountainbiketour, bei der Nico und ich von Felix, Linda und unserem unverschämt durchtrainierten Schweizer Guide die meiste Zeit über nur die Hinterräder gesehen haben, Grillabende, Kartenspiel-Runden (Durak, wie damals auf Sardinien) – und natürlich Tavernenbesuche. Manchmal sogar zwei am Tag. Wir lassen uns jedes Mal gefühlt die Hälfte aller Speisen bringen, die auf der Karte stehen, in der Mitte des Tisches drängen sich griechischer Salat aus Tomaten und Gurken, Fava (gelbes Linsenpüree mit Olivenöl), frittierte Zucchinibällchen, gegrillte Auberginen, Black Eyed Peas, kalter oder warmer Vlitha (schmeckt wie eine Mischung aus Blattspinat und Mangold; keiner von uns kannte das bisher, aber seit wir es zum ersten Mal probiert haben, fragen wir in jeder Taverne danach), Darkos, das steinharte kretische Brot, dessen Konsistenz an dreifach gebackenen Zwieback erinnert, das auch nach zwei Stunden in Olivenöl liegend keinen Tropfen Feuchtigkeit aufsaugt und das wir scherzhaft „Lembersbrot“ nennen, Saganaki, eine frittierte kretische Käsespezialität, Feta aus dem Backofen, manchmal etwas Schwein oder Lamm, Fisch oder gegrillten Oktopus. Zum Abschluss jeder Mahlzeit stellen die Wirte auf Kreta stets einen Nachtisch – Obst, Eis oder Gebäck – sowie eine kleine Karaffe Raki auf den Tisch, aber nicht in Rechnung – das gehört hier zu Gastfreundschaft.

Wir leben im Hier und Jetzt, kaum Platz für Gedanken daran, wie unsere Reise weitergehen soll. Was nach Kreta kommt. Vor ein paar Tagen dann schwänzen Nico und ich eine Wanderung und setzen uns in eine Taverne mit Meerblick, in der wir uns später alle wieder treffen wollen. Und versuchen, irgendwie sowas wie einen groben Plan zu entwerfen. Den August und September wollen wir in Deutschland verbringen und dort kreuz und quer durchs Land Familie und Freunde besuchen, soviel ist klar. Und wir möchten uns gegen Corona impfen lassen, soviel ist ebenfalls klar. Bisher sind wir davon ausgegangen, dass wir die Impftermine – so wir denn welche bekommen – irgendwie mit in die Deutschlandpläne hineinpressen müssen. Bis uns vor kurzem andere Reisende erzählt haben, dass sie sich Bulgarien gegen Corona haben impfen lassen. Seit Februar hat das Land seine Impfzentren für jeden geöffnet, der will, egal ob Staatsbürger oder nicht. Die Impfbereitschaft in Bulgarien ist mangels politischer Fürsprache für das Thema gering, also hat man sich entschieden, die Vakzine auf diese Weise unters Volk zu bringen. Bulgarien grenzt an Griechenland und liegt quasi auf dem Heimweg – nach einigem Abwägen haben wir uns entschieden, es zumindest zu versuchen. Wir hoffen auf Biontech, da die beiden Shots dort im Abstand von drei Wochen verimpft werden – das passt perfekt zu unserem Wunsch, Anfang August in Deutschland zu sein. Heißt aber auch, dass wir auf einmal so etwas wie Zeitdruck verspüren. Denn um die 1.500 Kilometer von Sofia zur Österreichisch-Deutschen Grenze nicht im Gewaltmarsch zurücklegen zu müssen, wollen wir uns dafür etwa zwei Wochen Zeit lassen – bedeutet, dass wir in der letzten Juni-Woche den ersten Shot haben sollten. Mit anderen Worten: In zwei Wochen. Ein sehr seltsames Gefühl beschleicht mich. Nach mehr als sieben Monaten in Griechenland fühlt sich das wie ein unerwartet plötzlicher Aufbruch an. Ich fühle mich überhaupt noch nicht bereit, das Land zu verlassen! Der Lockdown ist doch gerade erst vorbei und wir haben noch so wenig gesehen! Den Peloponnes und Kreta. Mehr nicht. Nordgriechenland mit seinen verlockenden Gebirgen und dem Pindos-Nationalpark. Die Meteora-Klöster, Athen, Euböa – sollen wir hier abreisen, ohne all das besucht zu haben? Oder quetschen wir das jetzt noch schnell in die letzten beiden Wochen? Der Gedanke erscheint mir absurd in dem Augenblick, in dem er durch mein Hirn zuckt. Viel zu viel Stress und Planungsaufwand. Und gleichzeitig denke ich: Für die meisten Leute sind diese zwei Wochen die Dauer eines Urlaubs und sie durchaus in der Lage, die paar Stationen in Nord- und Mittelgriechenland in einem solchen Zeitraum zu bereisen. Und merke mal wieder, was für ein unglaubliches Privileg das ist, was Nico und ich hier machen. Habe es häufig gespürt in diesen Wochen zusammen mit unseren Freunden. Von denen keiner ein Sehenswürdigkeiten- und Aktivitäten-Abarbeiter ist, und die trotzdem viel bedachter und sorgsamer mit ihrer Reisezeit umgehen müssen als wir. Wann genau habe ich das Bedürfnis nach effizienter Zeitplanung verloren? Ich weiß es nicht – aber ich vermisse es kein Stück!

Also endet auch unsere Zeit auf Kreta am Mittwoch, wir setzen zurück aufs Festland und ab dann geht die Reise nordwärts!

Ein Kommentar

  1. Wunderschöner Bericht und Traumhafte Fotos. Schöne Erinnerungen. Ja wie schnell die Zeit vergeht. Euch eine gute Überfahrt und weiterreise mit Mr. NORRIS. Sonnige Grüße vom Wisseler See ️

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