Meine Superkraft ist Organisationstalent. Meine Freunde behaupten, dass Chuck Norris die Uhr nach mir stellt, und wenn ich mich um irgendeine Angelegenheit kümmere, kann man davon ausgehen, dass sie generalstabsplanmäßig läuft. Man könnte auch sagen, dass ich eine Tendenz zur Überorganisation habe. Nicht immer eine angenehme Eigenschaft. In den letzten Jahren, seit ich Nico kenne, bin ich da deutlich entspannter geworden – man darf ohne Boshaftigkeit sagen, dass Nico das genaue Gegenteil von mir ist: Seine Superkraft ist Gegenwärtigkeit. Wir vereinen also ausgesprochen nützliche Talente. Warum ich das hier erwähne? Einer meiner Vorsätze für diese Reise war, nicht schon vorher alles minutiös durchzuplanen, jede Tagesetappe vorab festzulegen, jeden Stellplatz schon vor der Abreise zu suchen und alle Supermärkte und Tankstellen auf unserer Route bei Google zu markieren. Ich wollte den Weg beim Reisen entstehen lassen – glaubt mit, es hat mich sehr viel Disziplin gekostet, NICHT schon alles vorher auszuhecken! Für mich ist das auch Teil der Vorfreude auf einen Urlaub, gut, dass ich in den Monaten vor der Reise so viel um die Ohren hatte, dass zum Pläneschmieden wenig Zeit blieb. Heute Mittag, als wir die Grenze zu Bosnien überqueren, verfluche ich das.
Drei Tage lang sind wir gefühlt nur durch Gebirge, Schluchten, an Flüssen entlang gefahren. Seit wir vorgestern die montenegrinische Küste verlassen haben, folgen wir diversen Flüssen, die sich ihren Lauf durch tiefe Schluchten suchen (oder haben sie die Schluchten gegraben? Ich habe keine Ahnung). Gestern hat uns der Weg in den Durmitor Nationalpark kilometerlang durch die Tara-Schlucht geführt – prachtvoll!
Für den Durmitor hat man uns einen Hike um den Crno Jezero, den schwarzen See, empfohlen. Als wir am Park ankommen, brutzelt Nico uns sehr zur Erheiterung diverser Schülergruppen und einer Truppe chinesischer Touristen ein spätes Frühstück auf dem Parkplatz – Würstchen (die uns noch stundenlang schwer im Magen liegen werden) und Rührei. Dann marschieren wir zum Kartenhäuschen am Eingang zum See – und erfahren, dass der Eintritt (eigentlich 3 Euro pro Person) heute frei ist – der Nationalpark hat heute Geburtstag. Happy Birthday, Durmitor! Der erste Blick auf den See und den dahinter liegenden Gebirgszug ist fast kitschig – und zu Recht auf fast jeder Postkarte aus Montenegro verewigt. Drei massive Gipfel – der mittlere besonders riesig und in der Form eines Heuhaufens – überragen den türkisblauen See, davor Legionen von Nadelbäumen. So stelle ich mir Kanada vor. Nur größer hatte ich die beiden ineinander übergehenden Seen erwartet. Der Hike drumherum ist nett aber wenig abwechslungsreich. Wir sind trotzdem dankbar für die Bewegung.
Nach zwei Stunden sind wir zurück am Bus und steuern für die Nacht einen Schlafplatz an, der mitten im Durmitor am Rande der Straße P14 liegt, die sich von Süd nach Nord durch den Park und dann weiter bis zu bosnischen Grenze zieht. Der Crno Jezero liegt auf etwa 1.300 Metern, ab da geht es für uns nur noch bergauf. Je höher wir kommen, desto karger wird die Landschaft. Vom Abendlicht werden die schroffen Felshänge und die von weißen Gesteinsbrocken durchzogenen Wiesen sanft gestreichelt. Überall an den Felsen krallt sich noch alter Schnee fest. Es wird von Höhenmeter zu Höhenmeter kühler. Wir überqueren den Sedlo-Pass auf 1.900 Metern – der höchste Punkt für heute. Dahinter hat sich der alte Schnee bis an die schmale P14 hergeschoben und türmt sich rechts und manchmal auch rechts und links übermannshoch neben uns auf. Mehr als einmal berühren wir mit dem Seitenspiegel beinahe die Schneewand. Als wir an dem Platz ankommen, an dem wir schlafen wollen, liegt der komplett unter einem alten Schneefeld. Nico fragt, ob wir zurück zum Pass wollen, wo mehr als genug Platz für unseren Bus gewesen wäre. Aber mir behagt die karge, abweisende, kühle Atmosphäre in dieser Höhe nicht so recht. In der Abendsonne ein Traum, aber nach Sonnenuntergang? Wir fahren weiter. Und finden auf 1.500 Metern, inmitten von wieder deutlich üppigerer Natur und im goldenen Licht der hinter den Bergen verschwindenden Sonne, einen schönen Platz für die Nacht.
Der Weg aus dem Durmitor heute ist nicht weniger bestaunenswert als der Weg hinein – wann sind wir eigentlich zum letzten Mal eine langweilige oder gar hässliche Straße gefahren? Immer an der Tara entlang, die auf halber Strecke zu einem kilometerlangen, vielförmigen See aufgestaut wurde, durch kleine Tunnel hindurch, die von innen aussehen wie Unterwassser-Felshöhlen und immer entlang an sattgrünen Bergen windet sich der Weg – bis wir ziemlich unvermittelt vor dem Grenzhäuschen stehen. Als der montenegrinsche Beamte mir unsere Papiere zurückgibt, kann ich nicht anders: Ich muss ihn sagen, welche Freude es war, in seinem Land zu Gast zu sein. Er lächelt und fragt: „Will you come back?“ Auf jeden Fall, sagen wir. Und das dann tatsächlich früher als gedacht.
Ein paar hundert Meter weiter, an der bosnischen Grenze, fragt die strenge blonde Grenzerin nach unserer grünen Versicherungskarte. An zwei Grenzen konnten wir uns durchschummeln – diese Dame kennt kein Pardon. Um eine temporäre Versicherung für Bosnien zu bekommen, müssen wir zurück auf die montenegrinsche Seite und da in einem Cafe hinter der Grenze eine Green Card kaufen. Wir stellen Mr. Norris im Niemandsland zwischen den beiden Grenzen ab und gehen zu Fuß weiter, die Beamten winken uns durch. 21 Euro, für einen weiteren Euro zwei türkische Kaffee dazu, und schon haben wir den Wisch. Tat gar nicht weh. Jetzt ist auch die schöne blonde Frau zufrieden und lässt uns passieren.
Und dann fängt der Teil an, dem dieser Blogbeitrag seinen Titel und seinen ersten Absatz verdankt. Wir stellen fest: Wir sind hundsmiserabel vorbereitet, haben keinen rechten Plan, wie wir die wenige Zeit in Bosnien möglichst sinnvoll nutzen sollen, und wissen nicht mal, in welcher Währung man in Bosnien zahlt. Dabei ist Bosnien doch das Land, das ursprünglich unser Haupt-Reiseziel war – das einzige auf unserer Tour, von dem ich tatsächlich einen Reiseführer mitgenommen habe! In den hatte ich vor Monaten mal geschaut, eine grobe Route ausgewählt (ich wollte ja nicht alles vorplanen, richtig?) – und dann alles sofort wieder vergessen, weil einfach keiner der Ortsnamen in dieser für mich völlig unzugänglichen Sprache in meinem Kopf hängen bleiben wollte. Ich wusste nur noch, dass im Grenzgebiet zu Montenegro ein toller Nationalpark liegen soll – und habe gestern Abend ohne Internet und mit nur rudimentärem Google-Kartenmaterial angenommen, dass die große grüne Fläche hinter der Grenze dann wohl dieser Park – der Sujetzka-Nationalpark – sein muss. Den höchsten Berg Bosniens und den letzten Urwald Europas verheißt der Reiseführer – wenn man nur drei Tage in einem Land hat, klingt das nach genau den richtigen Superlativen.
Als wir nach 30 Kilometern immer noch kein Hinweisschild auf den Park gesehen haben, halten wir an einer Tanke – da gibt es sowohl in Montenegro als auch in Bosnien fast immer offenes WiFi – und stellen fest, dass der Sujetzka deutlich weiter westlich liegt. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit – zu viele Fotostops an der Tara, der bürokratische Kram an der Grenze und der Umstand, dass die Fahrt auf Bergstraßen oder den hier in Bosnien wieder deutlich schlechteren Straßenbelägen immer viel länger dauert als Google und Osmand annehmen – beschließen wir, ohne Wander-Einlage direkt einen Platz nördlich von Sarajevo für die Nacht anzusteuern, morgen den Rest des Landes (das etwa so groß ist wie Niedersachsen) bis zur Westgrenze und zum Una-Nationalpark zu durchqueren und dann übermorgen den ganzen Tag für eine ausgedehnte Mountainbiketour dort zur Verfügung zu haben, bevor wir nach Kroatien und von da weiter gen Heimat reisen. Bosnien in drei Tagen. Was für eine Verschwendung.
Der Tag stellt uns weiter auf die Probe, die letzten 20 Kilometer laufen mal so gar nicht rund. Erst setzt Nico Mr. Norris an einer Tanke, an der wir endlich eine Sim-Karte kaufen wollen, um das nervige Internet-Problem zu lösen, so schwungvoll rückwärts gegen einen Bordstein, dass es knallt und scheppert und der Bus ein jämmerliches Geräusch macht, als wir wieder vorwärts rollen. Glück im Unglück: Es war nicht die Stoßstange oder der Auspuff-Endtopf, sondern nur der Schmutzfänger hinter dem linken Hinterrad, der bei dem Manöver abgerissen ist und dessen Halterung dabei verbogen ist und beim Vorwärtrollen am Reifen schabt. Nico biegt es wieder zurecht und weiter geht’s. Dann schickt Google uns auf einen schmalen Schotterweg und will, dass wir dort Bahngleise überqueren, die tiefer sind als.jedes Schlagloch, das wir in den letzten drei Wochen gesehen haben. Auf keinen Fall fahren wir da durch! Also außen rum über noch mehr Staub und Schotter – dann einen Moment gepennt und wir fahren in die falsche Richtung. Drehen, wieder zurück, nächster Versuch. Google will uns auf eine mautpflichtige Autobahn schicken, obwohl wir das in den Einstellungen ausgeschlossen haben. Wir suchen – mal wieder ohne Internet – eine Alternative, und kommen den endlich, endlich auf dem Berg an, auf dem wir die Nacht verbringen wollen. Learning: wenig Planung kann man sich nur leisten, wenn man viel Zeit hat.