Eigentlich sollte heute mein letzter Arbeitstag sein. Seit einem Jahr habe ich den Tag im Kalender markiert. Und jetzt? Sitze ich im Homeoffice, zusammen mit Nico, in der Einzimmerwohnung unserer Freundin Linda. Bin genervt, wann immer er Telefonkonferenzen mit seiner Firma hat (also mehrfach täglich) und ich versuche, mich auf das Krisenmanagement in meiner Firma zu konzentrieren (also seit sechs Wochen). Corona hat alles durcheinander geworfen. Alle Grenzen dieser Welt sind dicht, unser geplanter Reiseauftakt für drei Monate durch Europa unmöglich geworden. Und letztes Wochenende kam Nico zu allem Überfluss noch mit einem Anliegen um die Ecke, das mich in echte Verzweiflung gestürzt hat: Er sieht unsere Reisepläne für Nordamerika ab August sehr kritisch und möchte selbst dann nicht den Bus nach Halifax verschiffen, wenn es wieder erlaubt sein sollte.
Ich bin sehr böse geworden. Habe geätzt, dass wir ja auch gleich zuhause bleiben können, wenn schon die Möglichkeit von Schwierigkeiten – Nico befürchtet soziale Spannung in den USA wegen der Corona- und der damit verbundenen Wirtschaftskrise und hat Angst, dass wir als Reisende dort angefeindet werden könnten – dafür sorgt, dass wir unsere Pläne ändern. Dass ich nicht jahrelang gespart habe, um dann meine kostbaren Ressourcen in meinem eigenen Vorgarten zu vergeuden. Dass ich lieber etwas wagen will, statt direkt den Trostpreis zu nehmen – einen Schritt zurückgehen kann ich ja immer noch. Und dass ich nicht sicher bin, ob ich mit jemandem reisen möchte, der immer nur den sichersten Weg wählt. Ich war gemein und bitter. In Wirklichkeit war ich verstört und verzweifelt.
Der Lockdown nagt an mir.
Ich tue mich schwer mit der ganzen Situation, auch wenn ich sonst eigentlich gut darin bin, mich auf neue Gegebenheiten einzustellen. Mir setzen die soziale Isolation und die beschränkten Bewegungsspielräume zu, und auch wenn ich gerne die positiven Seiten davon genießen würde – Entschleunigung, Zeit für Dinge, für die man sonst keine Zeit hat etc. – fällt mir das sehr schwer. Andere misten jetzt aus oder machen ihren Garten schön – wir haben nichts mehr zum Ausmisten, und der Balkon gehört nicht uns. Ich fühle mich gefangen und ausgebremst. Pläne schmieden macht keinen Spaß – alle Planungssicherheit ist pulverisiert. Unsere Hochzeitsfeier mit Freunden und Familie, die nächste Woche stattfinden sollte und die auch gleichzeitig unsere Abschiedsfeier geworden wäre, mussten wir abblasen. Die Stelle, an der Kummer darüber sein sollte, fühlt sich taub an, die Welt ist so surreal gerade, dass es mir vorkommt, als würde das jemand anderem passieren.
Hinzu kommt, dass die jetzige Situation vor allem die Unterschiedlichkeiten zwischen Nico und mir ans Licht zerrt. Er hat als bekennender Hypochonder großen Respekt vor den möglichen gesundheitlichen Auswirkungen der Lage und kann sich wunderbar wochenlang zu Hause einigeln, ohne das Bedürfnis nach Kontakt oder Ausgang zu haben. Mir gebietet die Vernunft, die gesundheitliche Lage ernst zu nehmen, emotional lässt mich das aber unberührt. Dafür macht mich das ständige Zuhausesein verrückt. Es fällt mir schwer, seine Besorgnis ernst zu nehmen, und ich bin neidisch, dass er so bedürfnislos zu Hause hocken kann. Ich schäme mich für mein mangelndes Verständnis und wäre gerne eine bessere Partnerin. Zumal ich mich sonst als jemanden kenne, der konstruktiv mit Krisen umgeht und immer versucht, das Positive daraus zu nutzen, anstatt sich vom Negativen lähmen zu lassen. Aber einfach Aushalten war noch nie meine Stärke. Ich fühle mich im Stich gelassen von meinem bisher so verlässlichen Talent, aus allem das Beste zu machen.
Dabei gibt es genügend Gründe zum Dankbarsein. Wir sind gesund, alle Menschen, die wir gern haben, ebenfalls. Wenn wir krank werden sollten, dann ist Deutschland der beste Ort, den wir uns dafür vorstellen können. Unsere Chefs haben unsere Kündigungen zurückgenommen und sind froh, dass wir in dieser turbulenten Zeit weiter mitarbeiten. Linda und Taria haben ihre WG für zwei weitere Monate verlängert, und wir haben noch bis Ende Juni ein Obdach. Und ich habe mich nach meinen bösen Worten vom letzten Wochenende auch wieder eingekriegt und angefangen, Pläne zu schmieden: Zwar mit wehem Herzen, da ich lieber RICHTIG weg will – aber es ist ja nicht so, dass Europa nichts zu bieten hätte. Wenn die Grenzen bis dahin wieder geöffnet sind, wollen wir Anfang Juli los. Erst, wie schon lange geplant, mit unseren Freunden in den italienischen Alpen Mountainbiken, dann mit meiner besten Freundin Janka und ihrer Familie zwei Wochen in Spanien Urlaub machen. Und dann im Süden bleiben, auf Korsika herumtrödeln (die Insel, die wir beide lieben und schon mehrfach bereist haben) und Sardinien entdecken. In Griechenland überwintern und nächstes Jahr im März nach Deutschland zurück, um die ebemfalls ausgefallene Hochzeit unserer guten Freunde Markus und Simone nachzuholen. Und dann – ein Jahr später als geplant – endlich nach Nordamerika verschiffen. Soweit die Idee. Und bis es soweit ist, tröste ich mich mit langen Spaziergängen im Park – etwas, das Nico und ich nach wie vor super gern gemeinsam tun. Ist also vielleicht doch alles gar nicht so schlimm…