Als wir am Ohridsee ankommen, sind wir platt. Mehr als einhundert Kilometer Schlaglochpisten liegen hinter uns. Mein Magen fühlt sich an wie Wackelpudding, Nico tut von der Taille abwärts alles weh. Aber wir bereuen keinen Meter. Albanien ist atemberaubend schön. Wir sind vor Bergpanoramen gefahren, die ich so noch nie gesehen habe. In der Nacht zu vorgestern haben wir an der einsamsten Stelle der Welt gestanden – und von oben auf das im Mondlicht daliegende Land geschaut und gestaunt. Der Regen, unser treuer Begleiter, hat nach dem Abendessen aufgehört zu fallen, drei dicke Frösche quaken in drei ebenso dicken Pfützen auf dem Weg, neben dem wir stehen. Es ist vollkommen friedlich.
Am nächsten Morgen fahren wir weiter Richtung Ohridsee, nachdem wir ein Glas Wasser und einen Becher Kaffee mit einem alten Hirten geteilt haben, dessen Kühe Nico mit der Drohne erschreckt hat und der daraufhin leise schimpfend von seinem Berg zu uns herab gestiegen ist, um uns eine halbe Stunde lang allerlei zu erzählen, von dem wir nicht eine einzige Silbe verstehen. Wir bieten ihm Kaffee und Erdbeeren an und er redet munter weiter, findet es offenbar nicht schlimm, dass wir ihn nicht verstehen. Wir antworten, lachen, Nico teilt seine Not-Zigaretten mit ihm. Dann packen wir zusammen und fahren weiter.
Vier Stunden Schlaglöcher liegen vor uns, das wissen wir aber zum Glück noch nicht. Die Berge begleiten uns bis zum Ohridsee, werden aber schon bald ein bisschen karg und schäbig. Nicht mehr so stolz und erhabenen wie im Nationalpark Bredhi i Hotovës, an und in dem wir die letzten beiden Tage gefahren sind. Wir kommen durch kleine Orte, die in unseren Augen heruntergekommen aussehen. Der Weg will einfach kein Ende nehmen – dann, endlich, nach ein paar letzten Serpentinen, der Ohridsee. Kurz halten wir auf einem Campingplatz in Pogradec, der aber so winzig ist und auch keine Waschmaschine hat (wir müssen dringend waschen!), dass wir nach kurzer Recherche weiterziehen zu einem Platz einen halben Kilometer weiter. Der ist perfekt: toll angelegt, super gepflegt, mit Waschmaschine, 11 Euro die Nacht. Fünf Stunden Parken in der Kölner City sind teurer.
Den ganzen Tag gestern vertrödeln wir genussvoll. Ich arbeite an zwei Aufträgen (beide Texte machen Spaß, daher fühlt es sich nicht wie Arbeit an), Nico macht unsere Mountainbikes fit, die nach der salzigen Fährfahrt nach Igoumenitsa ordentlich Rost an den Ketten und Bremsscheiben angesetzt haben. Morgen wollen wir mit den Rädern nach Orhid auf der mazedonischen Seite des Ohtidsees fahren – da wir immer noch keinen grünen Versicherungsschein haben, wollen wir so wenig Nicht-EU-Grenzen wie möglich mit dem Auto passieren. Da die Grenze von unserem Campingplatz aus nur drei Kilometer entfernt ist und Ohrid etwa 35, können wir auch endlich mal unsere Räder nutzen, die wir jetzt seit zweieinhalb Wochen auf dem Dach spazieren fahren.
Der Plan ist super – bis Nico nach der ersten langen Abfahrt feststellt, dass seine Bremsbeläge vorne wie hinten komplett runtergerockt sind. Er flucht. Verdammter Anfängerfehler! Das hätte ihm eigentlich bei der Wartung gestern auffallen müssen. Jetzt stehen wir am Point of no return, genau zwischen dem Campingplatz und Ohrid.
Nico findet wie durch einen Wunder einen Satz Bremsbeläge in seinem Fahrradrucksack. Mit dem Multitool kämpft er fast eine Stunde lang, bis das Rad notdürftig wieder hergestellt ist: vorn die neuen Bremsbeläge drauf, die alten von vorne hinten montiert (hinten ist nicht so wichtig). Perfekt ist anders, die Bremsscheiben schleifen leise vor sich hin und es ist schon fast halb zwei, bis wir wieder los kommen. Ein paar Kilometer weiter halten wir erneut, um die Lage zu besprechen: Nicos Rad fährt nicht gut, vor halb vier werden wir nicht in Ohrid sein, und dann müssen wir eigentlich direkt den Heimweg antreten, wenn wir nicht in die Dunkelheit geraten wollen. Auf dieser unbeleuchteten, schmalen Straße, auf der die Autos hautnah an einem vorbei ziehen, ist das das Letzte, was wit wollen. Auch ein weiterer Pannenstop ist nicht ausgeschlossen – nach einer schwerfälligen Recherche auf einem Balken Internet, ob es nicht einen Bus oder eine Fähre zurück nach St. Naum nahe der albanischen Grenze gibt, falls wir unterwegs Probleme bekommen, entscheidet Nico: zu riskant, wir kehren um.
Ich bin maximal frustriert. Weniger, weil wir nun Ohrid nicht zu sehen bekommen, als vielmehr, weil wir schon angesichts der bloßen Möglichkeit eines Risikos umkehren. So hatte ich mir unser großes Abenteuer nicht vorgestellt. Aber ich halte ausnahmsweise mal den Mund: Ich sitze ja nicht auf einem nur mäßig funktionierenden Bike, außerdem kann Nico Umstände bei Bike-Touren ganz klar besser einschätzen als ich. Wir wenden und ich möchte am liebsten weinen. Nach ein paar hundert Metern sagt Nico „Oder wir übernachten einfach in Ohrid.“ Drei Sekunden Nachdenken – dann ist es beschlossene Sache. Wir haben zwar nichts dabei außer den Bikeklamotten, die wir am Leibe tragen – kein T-Shirt zum Wechseln, keine lange Hose und schon gar keine Zahnbürste, aber was soll’s? Wir haben eine Kreditkarte, unser Bus steht sicher in Pogradec auf dem Campingplatz und wir haben morgen keine Termine.
Beflügelt von der Aussicht auf einen Abend in einer schnuckeligen Stadt am See und einem Zimmer mit Dusche treten wir in die Pedale und erreichen um halb vier Ohrid. Setzen uns an den See, trinken ein Bier und suchen nach einem Zimmer. Ich hatte die Budgetgrenze gedanklich bei 30 Euro gesetzt – wir brauchen 15 für ein Zimmer fußläufig zur Altstadt. Das Zimmer ist nicht schick aber hat alles, was man braucht, eine freundliche und hilfsbereite Wirtin und eine heiße Dusche. Wir steigen danach zurück in die Bikeklamotten und stromern durch die charmante Altstadt.
Vorher haben wir in einem 24 Stunden lang geöffneten Laden bei uns um die Ecke den Preis für Zahnbürsten und Zahnpasta ausgecheckt – Albanien war schon vergleichsweise günstig, aber Mazedonien toppt das noch deutlich. Umso mehr ärgere ich mich etwas später, dass ich am Geldautomaten nach einigen hilflosen Momenten des Nachdenkens, wie viel wir wohl für Abendessen, Frühstück und Wegzehrung am nächsten Tag brauchen werden, 5.000 Denar abhebe – umgerechnet 80 Euro. Für unser mehr als üppiges Abendessen bezahlen wir nicht mal 1.500 Denar… wohin mit all dem Geld in einer Währung, die wir schon morgen nicht mehr brauchen? Wir malen uns auf dem Heimweg vom Essen aus, dass wir morgen alles in Salami und andere haltbare Lebensmittel umsetzen, die wir auf dem Fahrrad im Rucksack nach Hause fahren. Oder in Perlen – die gibt es in Ohrid an jeder Ecke, offensichtlich haben sie im See riesige Zuchtanlagen für Süßwasserperlen. Egal, da fällt uns morgen schon eine Lösung für ein. Da wir schon mal hier sind und morgen einen ganzen Tag für die Rückfahrt zum Campingplatz haben, beschießen wir vor dem Schlafengehen, den See komplett zu umrunden, anstatt die Strecke einfach nur zurück zu fahren. Macht sich cool in der Bike-Biografie, und es sind nur noch knapp 60 Kilometer – nicht viel, wenn Nicos Rad hält…