Wir haben Griechenland jetzt lange genug durch die Windschutzscheibe unseres Busses bewundert, wir finden, es ist Zeit für etwas Sightseeing. Also beschließen wir bei Patras, doch noch nicht die eindrucksvolle Hängebrücke auf den Peloponnes hinüber zu überqueren, sondern weiter nach Osten bis Delphi zu fahren und einen kleinen Abstecher in die Antike zu unternehmen. Die Nacht davor verbringen wir an einem Strand in der Nähe von Delphi, an dem, das haben wir von oben von der Straße aus gesehen, bereits diverse Wohnwagen stehen. Unbewohnt und für den Winter verschlossen. Dazwischen fallen wir mit unserem Büsschen kaum auf. Auch als abends einige Fischer mit Booten auf den Hängern ihrer Autos ankommen, um in der untergehenden Abendsonne noch einmal aufs Meer hinaus zu fahren, bleiben wir an unserem Platz. Wir werden immer mutiger. Und die Fischer scheint es nicht zu interessieren, sie heben die Hand zum Gruß und haben uns dann auch schon wieder vergessen.
Bei strahlendem Sonnenschein kurven wir am nächsten Morgen die letzten Kilometer nach Delphi hinauf. Im Sommer schieben sich die Blechlawinen durch den Ort, dessen einzige Durchfahrtsstraße von Cafés und Restaurants gesäumt ist. Im November sind wir mehr oder weniger alleine mit den Einheimischen. Wir gönnen uns ein Frühstück in der Sonne, bevor wir uns aufmachen zu der alten Tempelanlage, wo vor zweieinhalbtausend Jahren das Orakel von Delphi Politikern und Privatpersonen bei wichtigen Entscheidungen zur Seite stand. Nur wenige Touristen sind mit uns hier oben, alle tragen mehr oder weniger klaglos Maske: Seit gestern ist das auch hier in der Gegend im Außenbereich überall Pflicht. Wir bestaunen die hoch aufragenden Säulen des Apollontempels, in dem die Pythia jahrhundertelang so geheimnisvoll weissagte, dass es eine Heerschar von Priestern brauchte, ihre wirren Worte zu interpretieren. Es ist kein Geheimnis, dass dabei ordentlich Rauchwerk und Drogen im Spiel waren, und dass die Priester gegen einen kleinen Obolus die Weissagungen auch gerne mal zugunsten des Fragenden auslegten.
Das macht den Platz nicht weniger eindrucksvoll, wir wandeln über die alten Wege und stellen uns vor, wie es wohl gewesen sein mag, sich hier in den alten Zeiten mit Fragen zum Kriegsglück oder nach der Treue des Eheweibs heraufzumühen. Ein paar Meter weiter stehen wir vor dem Nabel der Welt: Den haben angeblich zwei goldene Adler hier verortet, die Zeus in entgegengesetzter Richtung um die Welt fliegen ließ, um herauszufinden, wo ihr Mittelpunkt liegt. An der Stelle, an der die Adler sich trafen, warf Zeus einen kegelförmigen Stein hinab – den wir nun bewundern. Oberhalb des Apollontempels liegt ein Amphitheater eindrucksvoll in den Hang des Berges gebaut in der Mittagssonne. Der Ausblick von der gesamten Anlage Richtung Meer ist phantastisch, tief unten sieht man ein weitläufiges Tal voller Olivenbäume und Hügelketten, die den Blick zum Meer versperren. Wir trödeln so lange zwischen den Tempeln und Schatzhäusern herum, dass die Zeit fürs angeschlossenem Museum nicht mehr reicht. Wohl aber für den Tempel der Athene, der ein paar hundert Meter weiter die Straße herunter liegt. Drei der mächtigen Säulen des Tempels wurden wieder aufgerichtet, um zu demonstrieren, wie eindrucksvoll das Gebäude einmal gewesen sein muss. Eine recht erfolgreiche Demonstration, wie wir finden.
Nach drei Stunden haben wir genug von den alten Steinen und machen uns auf die Suche nach einem Nachtquartier. Oberhalb von Delphi in einem der wenigen Skigebiete Griechenlands, im Parnassus Nationalpark, werden wir fündig. Etwas abseits der kaum befahrenen Straße liegt eine winzige Kapelle, neben der wir unseren Bus blickgeschützt parken können. Vor der Kapelle gibt es sogar eine kleine Terrasse mit einem Tischchen, einer Holzbank und einem klapprigen Stuhl. Der einzige Wermutstropfen: Die Temperaturen fallen mit dem schwindenden Abendlicht rapide. Wir befinden uns hier 1.300 m über dem Meer, es wird ein kühler Abend, den wir mit einer Diskussion darüber beschließen, ob unser Fahrzeug vielleicht auf Dauer zu klein für Reisen bei kaltem oder schlechtem Wetter ist…
Als wir heute früh den kleinen Zeh aus dem Bus strecken, nieselt es. Über Nacht ist es Herbst geworden. Die umliegenden Berge hüllen sich in dichten Nebel, alles tropft vor Feuchtigkeit, es sind 9 Grad draußen. Gestern Abend habe ich eine Stunde lang versucht, Wanderrouten im Parnassus Nationalpark ausfindig zu machen. Angeblich gibt es hier 100 Kilometer markierter Wanderwege, aber ich habe im gesamten Internet nichts brauchbares dazu finden können. Ein Besucherzentrum für den Nationalpark existiert offensichtlich auch nicht, also steigen wir nach einem heißen Kaffee in den Bus und fahren einfach drauflos. Nico steuert den Bus über schlaglochzerfressene Straßen immer höher hinauf, wir begegnen außer einem Motorradfahrer keiner Menschenseele. Dunkle Tannen und Geröll säumen die Wege, der Nebel hängt zwischen den Bäumen. Die Szenerie wirkt zugleich gespenstisch und faszinierend. Wir gelangen an eine verlassene Talstation: Von Januar bis April ist hier Skisaison. Ich finde allerdings, dass die Liftanlage nicht besonders vertrauenerweckend aussieht, ich glaube nicht, dass ich mich da hinein setzen würde… Weiter geht es durch die schroffe Landschaft, bis wir irgendwann Hunger bekommen. Wir folgen der Straße bis in den Ort Amfikleia hinab, wo wir uns in der Taverne eine riesige Portion griechischen Salat und ein halbes Grillhähnchen einverleiben, da die Küche von der umfangreichen Speisekarte mittags offenbar nur drei Gerichte anbietet, wie die Wirtin uns mit Zeigen und auf Griechisch verständlich macht. Wir kauen glücklich und freuen uns darüber, dass das Thermometer draußen schon wieder 15 Grad anzeigt – ein Tag Herbst ist auch erstmal genug, finden wir.