Der Skorpion ist riesig – und ganz offensichtlich ziemlich wütend. Immer wieder richtet er drohend seinen Schwanz auf und zuckt mit seinen Scheren. Zum Glück steckt er inzwischen unter einem umgestülpten großen Wasserglas, eingefangen von einer mutigen Lady, nachdem er über den Fuß ihres Mannes gehuscht war und die ganze um den Campingtisch versammelte Familie auf die Stühle getrieben hat. Seit nicht einmal 24 Stunden sind Nico und ich für diesen Campingplatz verantwortlich – und schon passiert sowas!
Gekommen sind wir zu diesem Job wie die Jungfrau zum Kinde. Eigentlich wollen wir nur ein paar ruhige Tage am Meer verbringen und beschließen, noch einmal die lange, kurvenreiche Strecke hinab in den Huatulco Nationalpark zu fahren, wo wir schon ein paar Tage zusammen mit Linda waren. Der kleine Campground „Don Taco“ direkt am Pazifik hat uns gut gefallen, die Temperaturen sind so tropisch, dass uns ein Stellplatz nur 20 Schritte vom Wasser entfernt als die bestmögliche Antwort erscheint. Nico schlägt vor, uns vorab bei Frans und Anneke, den niederländischen Besitzern, zu vergewissern, ob sie Platz für uns haben. Die Antwort von Frans fällt ernüchternd aus: Noch zwei Tage sind sie vor Ort, dann wollen sie den Platz für eine Woche schließen und selber verreisen. Zwei Mal acht Stunden Fahrt für zwei Nächte am Meer? Die Rechnung geht für uns nicht auf. Rückfrage bei Frans: Gibt es einen anderen Platz direkt am Meer, so schön wie seiner? Wir würden gerne länger bleiben als zwei Nächte. Seine überraschende Antwort: „Wenn es Euch nichts ausmacht, dass Anneke und ich nicht da sind, könnt Ihr gerne länger bleiben“. Nico und ich jubeln – und machen uns umgehend auf den langen Weg ans Meer.
Acht Stunden später, als wir müde und verschwitzt bei „Don Taco“ ankommen, hat Frans eine noch bessere Idee. Er drückt uns ein Bier in die Hand und fragt uns, ob wir den Platz während seiner Abwesenheit für ihn managen können. Dann muss kein müder Reisender, der sich den ganzen kurvigen Weg und dann die letzten 13 Kilometer Dirt Road hier hinunter gequält hat, vor verschlossenen Toren stehen. Das kleine Areal liegt nicht verlassen da – und Frans kann sich über Einnahmen trotz Abwesenheit freuen. Nico und ich zögern keine Sekunde: Klar machen wir das!
Uns fällt nur noch am Rand auf, mit wie viel wechselseitigem Vorschussvertrauen wir diesen Deal besiegeln: Schon oft haben wir unterwegs festgestellt, dass wir anderen Reisenden (und Frans und Anneke sind wahrlich weit gereiste Menschen) viel schneller und viel umfassender Vertrauen schenken und von ihnen mit Vertrauen beschenkt werden, als das in unserem deutschen Alltag der Fall war. Aus der selben Notwendigkeit heraus, aus der auch Gespräche und ein geteilter Alltag auf Reisen schneller nah und verbindlich werden: Man bringt sich gegenseitig Fehlendes aus dem Supermarkt mit, leiht einander ohne zu zögern Bargeld oder Werkzeug, kocht oder spült für andere mit, schmeißt ein paar fremde Kleidungsstücke mit in die eigene Waschladung. Kleine Akte der Unterstützung, weil wir am Ende alle den selben umständlichen Reisealltag leben und jeder aus eigener Erfahrung weiß, wie erleichternd alle Wege oder Handgriffe sind, die einem erspart bleiben. Weit weg von zuhause sind wir aufeinander angewiesen: Zu reisen ohne anderen zu vertrauen und ihre Hilfe anzunehmen wäre ein unendlich mühseliges Unterfangen. Und so verwundert es uns nicht wirklich, das Frans und Anneke uns ohne viel Federlesens ihr Zuhause und ihr Business anvertrauen.
„Don Taco“ hat nur Platz für etwa fünf Fahrzeuge sowie ein paar Zelte. Jetzt, Anfang Mai, ist die Saison außerdem so gut wie vorbei: viel zu heiß für entspannten Strandurlaub. Frans zeigt uns rasch, wo wir alles finden – und am nächsten Morgen brausen die beiden auch schon davon in ihrem Pickup-Truck. Und wir sind jetzt der Platzwart. Bis zum Abend checken wir zwei Reisemobile und eine Familie mit Zelt ein und wollen uns gerade stolz auf die Schulter klopfen, dass wir schon am ersten Tag so viel Umsatz gemacht und alles so souverän hinbekommen haben – da hören wir den Schrei und das Scharren von Stühlen. Der Skorpion. Wahrscheinlich aufgescheucht aus seinem sandigen Versteck von dem jungen Mann, der hier seit Tagen eine neue Sickergrube für Frans gräbt (Nebensaison ist für uns Campground-Betreiber auch die Zeit für Umbau- und Ausbesserungsarbeiten). In der Dunkelheit hat sich das nachtaktive Spinnentier dann offenbar auf den Weg gemacht – und jetzt haben wir den Salat. Was tun? „Mit etwas schwerem erschlagen, ich nehme dafür normalerweise meinen Schuh“, schreibt Frans, zu dem wir eine Standleitung per WhatsApp haben. Mich überläuft ein gruseliger Schauder, aber ich hole meine Wanderstiefel aus dem Bus. Mein Sinn für Gleichberechtigung verbietet es mir, das Problem Nico zu überlassen, also stapfe ich hinüber zu der Familie und werfe einen Blick durch das Glas. Erstmals sehe ich den Skorpion in voller Pracht – und stapfe umgehend zurück zum Bus, um das Problem Nico zu überlassen. Dieses Tier ist halb so groß wie meine Hand, im Leben werde ich da nicht mit dem Stiefel drauftreten! So etwas Großes mag ich nicht einfach zermalmen – schon gar nicht mit meinem Barfuß-Wanderschuh! „Er ist schnell“, warnt die mutige Frau, die den Skorpion unter dem Glas festgesetzt hat – also wahrscheinlich ohnehin ein bescheuerter Plan, ihn kurz freizulassen in der Hoffnung, ihn dann mit dem Stiefel zu erwischen. Wenn der stiften geht, hat hier keiner mehr eine ruhige Nacht.
„Frans, der Skorpion ist riesig!“, schreiben wir. „Leider sind mir gerade die Atombomben ausgegangen“, lautet seine knochentrockene Antwort. Frans ist ein tougher Typ, der 20 Jahre lang in Indien eine Textilproduktion geleitet hat und schon auf allen Kontinenten gereist ist, in seiner Freizeit Ralleyfahrer war – und den so etwas albernes wie einen Skorpion zu erlegen vermutlich keinen zweiten Gedanken kostet. Uns schon. Wie überlegen, ihn einfach unter dem Glas hocken zu lassen, bis er entweder verhungert oder erstickt ist. Zu unsicher – was, wenn er der Arnold Schwarzenegger unter den Skorpionen ist und irgendwie sein dünnen Ärmchen unter den Glasrand geschoben kriegt? Wenn der sich befreit, wird seine Rache an uns fürchterlich ausfallen. Ins Meer schmeißen? Im Dunklen und um ihn dann mit der nächsten Welle wieder entgegengeschleudert zu bekommen? Nein, auch keine gute Idee. In einen Topf mit kochendem Wasser werfen? Grausam. Zu viele Geschichten über die stummen Todesschreie von Hummern in den Nobelküchen dieser Welt gelesen, das bringen wir nicht über uns. Mein Blick fällt auf Frans‘ und Annekes riesige Gefriertruhe. Und ein Plan formt sich in meinem Kopf.
Wir spülen schnell unseren größten Topf, in dem wir vorhin die Pasta zum Abendessen gekocht haben (Nico will, dass das Teflon makellos sauber und unüberwindlich glatt ist, damit sich das Monster nicht an etwaigen Nudel-Atomen die Wand des Topfes hinaufhangeln kann) und suchen den Plastikdeckel heraus, mit dem sich der Topf als Vorratsgefäß zweitnutzen lässt. Dann holen wir tief Luft und nähern uns in Arbeitshandschuhen dem umgestülpten Glas. Schieben es an den Rand des Tisches (was dem Skorpion gar nicht gefällt, er stürzt sich sofort gegen die Glaswand und ich bin jetzt fast sicher, dass wir hier Arnold Schwarzenegger gefangen haben) und platzieren den Topf auf einem Stapel Plastikstühle davor, sodass der Topfrand mit der Tischkante abschließt. Ich packe Topf und Deckel fest, Nico das Glas. Er zählt bis drei – und schiebt das Glas über den Topf. Blitzschnell drücke ich den Plastikdeckel auf den Rand und wir spüren, wie drinnen im Topf der Skorpion randaliert. Mit schlechtem Gewissen öffnen wir die riesige Gefriertruhe und stellen den Topf hinein – eine saubere Lösung ohne Skorpion-Gemetzel für uns und ein hoffentlich halbwegs gnädiger Tod für den Skorpion (ich habe mal gelesen, dass Erfrieren ein friedlicher Tod sein soll?). Für den Rest des Abends sitze ich in Bikini und Wanderstiefeln auf meinem Campingstuhl – auch 28 Grad Nachttemperaturen können mich nicht dazu bewegen, die dicken Schuhe auszuziehen, man weiß ja nie, ob da nicht noch mehr Skorpione in der Sickergruben-Baustelle lauern. Die Frau, die das Tier gefangen hat, sitzt derweil wieder seelenruhig an ihrem Tisch und schaut sich am Laptop ein Video an – ich bewundere sie.
Seit drei Tagen liegt der Skorpion nun in seinem eisigen Grab, bisher haben wir es nicht gewagt, den Topf zu öffnen und nachzusehen, ob er wirklich tot ist. Was weiß ich, wie zäh diese Biester sind? Bis Sonntag haben wir noch Zeit, dann müssen wir den Topf entweder öffnen oder ohne ihn weiterreisen. Seit dem aufregenden ersten Tag hat sich unser Job als Campingplatz-Manager zum Glück deutlich geruhsamer gestaltet – bis auf einen Schreckmoment am gestrigen Abend. Jan aus Südafrika, der mit seiner britischen Frau Cleo und ihren beiden Söhnen zu Gast ist, springt von genau dem Stuhl auf, auf dem zwei Abende zuvor die mutige Skorpion-Jägerin gesessen hat. Er hebt etwas vom Boden auf und läuft eilig zu seinem Fahrzeug mit Dachzelt, in dem Cleo sich schon zur Ruhe begeben hat. Zwei Minuten später kommen die beiden mit Stirnlampen wieder heraus und huschen zum Zelt ihrer Söhne, holen diese aus den Betten. Beleuchten, was Jan in der Hand hält, lassen die Lichtkegel der Lampen dann über den sandigen Boden wandern. Mein Verstand sagt mir, dass sie auf gar keinen Fall einen weiteren Skorpion gefunden haben können – wer würde den schon in die Hand nehmen? Andererseits: Die beiden sind Biologen und Wildlife-Spezialisten, vielleicht kennen sie einen Spezialgriff, mit dem man solche Viecher hochnehmen kann ohne gestochen zu werden? Ich spüre die Aufregung der Familie, aber auch mein eigenes Adrenalin: zu viel Duplizität der Ereignisse für meinen Geschmack. Im Gänsemarsch kommt die Familie im Dunklen auf den Tisch zu, an dem Nico und ich sitzen. „Wir wollen Euch etwas zeigen“, sagt Jan. „Alles gut bei Euch?“, frage ich vorsichtig (wir haben hier schließlich eine Verantwortung!). Dann noch vorsichtiger: „Ist es etwas Unheimliches da in Deiner Hand?“ Jan lächelt: „Nein, es ist etwas Schönes.“ Ganz vorsichtig öffnet er die Finger, vor meinem geistigen Auge erscheint ein Skorpion mit steil aufgerichtetem Schwanz. Aber in seinen Handflächen sitzt – ein frisch geschlüpftes Schildkrötenbaby! Unglaublich! Was macht das hier unter einem Tisch? Ganz allein? Und zu dieser Jahreszeit? Die Saison ist eigentlich längst vorbei, schon in Baja Ende Februar waren wir zu spät und an dem Strand, an den wir extra für die Schildkrötchen gefahren waren, gab es nichts mehr zu sehen. Zu sechst stapfen wir im Schein der Stirnlampen (die vorbildlichen Biologen haben sie auf Rotlicht umgeschaltet, um das lichtempfindliche Tier nicht zu blenden) ans Wasser und setzen das kleine Kerlchen auf den feuchten Sand. Es flüchtet zurück in die Hände von Cleo. Erneut setzt sie es in den Sand – ihr Instinkt treibt die Schildkrötenbabys in der Regel zielsicher aufs Meer zu. Das die Weibchen erst dann wieder verlassen, wenn sie ausgewachsen sind und an ihren Geburtsstrand zurückkehren, um selber Eier zu legen. Die männlichen Meeresschildkröten hingegen werden nie wieder an Land zurückkehren. Dieses Exemplar hier – ob Männchen oder Weibchen wissen wir nicht – braucht offenbar einen zweiten Anlauf. Eine neue Welle spült heran und zieht das Schildkrötenkind schließlich mit sich. Gute Reise, kleines Wesen!
Oh liebe Brit, alles gut gemeistert. Spannend, aber was ist nun mit dem Skorpion in der TK. Ist er friedlich eingeschlafen? Und wo wird er vergraben?
Da ist die Erzählungen von der kleinen Schildkröte sehr schön. Noch ein paar schöne Tage im Paradies. LG MONIKA
Wir haben uns erst heute getraut, ihn aus dem Eis zu holen… Und dann haben wir seine kleine Leiche ins Meer geworfen – das Wasser hat ihn davongetragen 🙂 aber selbst tot fanden wir ihn noch ganz schön gruselig…
Liebe Britt,
wir haben uns köstlich über Euch Skorpion-Experten amüsiert!!
Sehr plastisch beschrieben❗️
Liebe Grüße aus Maine
Uschi und Michael
Hallo „Kollegen“,
nach Monaten gucke ich hier mal wieder bei Euch vorbei und stelle überrascht und erfreut fest, dass Ihr doch glatt auch unter die Stellplatz Betreiber gegangen seid – wenn auch nur vorübergehend!
Ganz liebe Grüße vom noch kleineren Garten Camping Platz in der Eifel,
Astrid