Ich bin kein Strandmensch. Die klassische Reisebüro-Werbung mit weißen Pulverstränden, azurblauem Meer und sich sanft im Wind wiegenden Palmen funktioniert bei mir nur bedingt: Mein Auge erfreut sich an der Szenerie, aber mein Gehirn denkt sofort an Sand auf dem Handtuch. Sand in der Bikinihose, eine klebrige Sand-Sonnencreme-Mischung auf der Haut, Steine und spitze Muscheln, die durchs Badelaken pieksen, einen ständig im Wind umschlagenden Sonnenschirm. Und an die beschwerliche Schlepperei, die es braucht, um Equipment, Essen und Getränke für einen langen Strandtag an eben diesen Strand zu befördern – um dann schon nach einer halben Stunde zu denken, wie furchtbar heiß und langweilig es ist. Und – ich wiederhole mich da gerne – alles voller Sand. Ich bin jedenfalls bisher gut damit gefahren, Strand und Meer als bloße Augenweide zu betrachten, nicht als Ort, an dem man viel Zeit verbringt. Ich überlasse das Sonnenbaden anderen, nehme niemandem kostbaren Platz weg und alle sind zufrieden.
Bisher. Denn je länger wir auf der Baja California reisen, desto mehr beginne ich, das Thema noch mal neu zu überdenken. So viele Tage und Nächte stehen wir hier nun schon auf weichem Sand. Mit Blick aufs Meer und dem leisen Rauschen der Wellen als Schlaflied. Trinken morgens mit den Füßen im Sand Kaffee und sitzen abends in Campingstühlen am Lagerfeuer. Sehen Sonnenuntergänge, die jede 80er-Jahre-Fototapete farblos erscheinen lassen. Treiben langsam und ziellos durch die Tage wie Seegras in den ruhigen Strömungen unter der Wasseroberfläche. Und ich genieße es tatsächlich und wünsche mich nicht schon nach kürzester Zeit irgendwo anders hin, wo es weniger sandig und unbequem ist. Ich glaube, der große Unterschied zu bisher besteht darin, dass unser Zuhause die ganze Zeit in Reichweite bleibt. Unser Bus ist wie der Kühlschrank direkt am Strand. Und die Snackbar, der Handtuchstapel, die Musikbox, das Bücherregal, der Sonnencreme-Spender, das Waschbecken, die Sonnenbrillenablage und der Kleiderschrank gleich mit dazu. So bequem und gut ausgestattet gefällt es selbst mir am Strand. Mag aber auch sein, dass die Delphine und das leuchtende Plankton ihren Teil dazu beitragen, dass ich von Tag zu Tag mehr zum Strandmenschen werde. Jap, sowas passiert hier auf der Baja California nämlich einfach mal so und ohne Vorwarnung.
An einem Abend sitzen am Playa los Cocos an der Bahia de Concepcion zusammen mit Anna und Anne, Sissi und Jannis am Feuer. Die Bäuche voll mir Burgern vom Grill, die Köpfe voll mit neuen Geschichten, die Sissi und Jannis mit uns geteilt haben, seit wir einander vor ein paar Tagen zum ersten Mal begegnet sind. Über uns die funkelnden Sterne, vor uns der dunkle Ozean, der still wie ein Seidentuch daliegt. Plötzlich ein lautes Platschen nicht allzu weit von uns entfernt. Als hätte ein ziemlich dicker Fisch einen Bauchklatscher auf dem Wasser gemacht. Dann noch ein Platschen. Wir kneifen die Augen zusammen, können im Dunklen aber nichts erkennen. Beim dritten Platschen springt Jannis auf und schiebt sein rotes Aufblas-Kajak, mit dem er heute tagsüber eine Runde durch die Bucht gepaddelt ist, ins glatte Wasser, um auf die Suche nach der Ursache des Geräuschs zu gehen. Kommt fünf Minuten später zurück und ruft: „Das müsst Ihr sehen! Los! Einer nach dem anderen zu mir ins Kajak, ich paddel‘ Euch raus!“ Ich kremple die Hosenbeine hoch und steige im seichten Wasser ins Kajak. „Hier vorne sieht man es noch nicht so gut, aber schau auf unsere Bugwellen, sobald wir weiter draußen sind“, raunt Jannis geheimnisvoll. Und dann glüht es neonblau. Da, wo die Spitze des Kajaks durchs Wasser schneidet, tanzen leuchtende Kämme auf den schwarzen Wellen. Jannis schaufelt mit dem Paddel Wasser auf und lässt es auf die Meeresoberfläche zurück regnen – eine Kaskade von neonblauen Lichtern malt Muster ins Dunkle. Ich stecke meine Hand ins Wasser und lasse es durch die Finger strömen, wirble es auf, spritze es vor mich in die Finsternis: Wann immer Wasser auf Wasser trifft, erscheint das überirdische Leuchten. Nur für Sekundenbruchteile, dann ist alles wieder dunkel. Ein biochemisches Wunder der Natur: Leuchtplankton, das sich an windstillen Tagen tagsüber durch die Sonne auflädt, um dann nachts fröhlich vor sich hin zu fluoreszieren. Atemlos und entzückt tauche ich wieder und wieder die Hände ins Wasser – und fühle mich dabei wie in einem Disney-Film. Wie Arielle die Meerjungfrau, die unter dem Meer zu den Gesängen von Sebastian der Krabbe von lauter magischen Wesen umschwirrt wird. Special Effects der Meeresbewohner inklusive. Als Jannis mich zum Strand zurück paddelt und der nächste zu ihm ins Kajak steigt, tun mir die Wangen weh: Ich finde diese Plankton-Nummer einfach so abgefahren, dass ich nicht aufhören kann zu grinsen. Ach ja, das laute Platschen. Keine Ahnung, was das war, das konnten wir nicht rausfinden. Wir waren viel zu beschäftigt mit der Light Show.
Und als hätte Mutter Natur damit nicht schon genug Spektakel veranstaltet, geht es am nächsten Morgen munter weiter: Wir entdecken Delphine am Horizont. Neulich sind schon mal zwei durch den rosa Sonnenuntergang gesprungen und ich habe mich gefragt, ob es eigentlich eine Obergrenze für Kitsch gibt. Nun tauchen erneut Rücken- und Schwanzflossen aus den Wellen auf. Zwei, drei, vier – ich hole das Fernglas auf dem Bus (der praktischerweise direkt neben mir steht – erwähnte ich, dass Strandleben mit Bus in Griffweite richtig gut ist?) und spähe hindurch. Sie springen! Mindestens vier! Vielleicht sogar fünf! Jannis schnappt sich Sissi und das Kajak und die beiden paddeln hinaus zu den Delphinen. Rechts und links tun es ihnen andere Camper gleich: Alles, was ein SUP, ein Bötchen oder ein Surfbrett besitzt, eilt hinaus aufs Wasser. Ich suche die Bucht weiter mit dem Fernglas nach Delphinen ab: Überall tauchen Rücken und Flossen auf, das müssen sehr viel mehr als fünf Tiere sein. Anne startet ihre Drohne und folgt dem roten Kajak aus luftiger Höhe. Dann paddeln Anna und Anne raus und schließlich sind Nico und ich dran. Es dauert ein paar Augenblicke, bis wir Anfänger unseren Paddelschlag synchronisiert haben und es ist anstrengender, als es bei den anderen aussah. Aber schließlich gleiten wir hinaus auf die Bucht und immer näher an die Delphine heran, die nun bereits seit mehr als einer Stunde im Wasser jagen. Dann taucht der erste in Armeslänge neben unserem kleinen Gummi-Kajak auf und ich kriege Gänsehaut. Noch einer und noch einer – rechts und links und vor und hinter uns gleiten und springen die Tiere durchs Wasser. Es sind dutzende, vielleicht fünfzig oder sogar mehr. Und ich fühle mich zurückversetzt ins Delphinarium des Duisburger Zoos, das ich als kleines Mädchen mit meiner Großmutter besucht habe. Das mich so sehr fasziniert hat, dass ich die Namen der Delphine, die dort in ihrer Show durch Reifen gesprungen sind, mit Bällen gespielt und Fisch aus der Luft gefangen haben, bis heute weiß. Dolly, Playboy, Nico, Lucy. Inzwischen natürlich auch weiß, dass Delphinshows alles andere als artgerecht sind. Aber als Kind haben die glatten, glänzenden Tiere mit den Knopfaugen und dem Maul, das immer aussah, als würde es lächeln, mich tief beeindruckt. Und tun es nun mit der selben Wucht erneut – nur, dass diese Exemplare hier wild und frei und nur nach ihrer eigenen Agenda leben. Als wir wieder am Strand sind, kann ich immer noch nicht ganz glauben, dass wir das wirklich erlebt haben. Das neonblau leuchtende Plankton in der Nacht und die Delphine am Morgen. So vieles hat mich auf dieser Reise schon in Staunen versetzt, majestätische Landschaften, Licht, wilde Tiere, Himmel und Sterne. Aber das hier kam völlig unerwartet. In die Nationalparks und an viele andere schöne Orte sind wir gefahren, weil wir wussten, dass es dort etwas Besonderes zu sehen gab. Aber nicht an diesen Strand. Hier werden wir überrumpelt von Schätzen des Meeres, von denen wir nichts geahnt hatten.
Nach einem kurzen Stop im zauberhaften Touristen-Örtchen Loreto gehen unsere Strandtage auf der Baja weiter: Wir stürzen uns auf ein Festival, zu dem sich einmal im Jahr hunderte von Van-Reisenden am Tecolote Beach bei La Paz treffen. Ich zunächst mit mäßiger Begeisterung: Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass mir ein dichtes Gedränge von Fahrzeugen und lauter Instagram-taugliche Vanlifer Spaß machen. Ja, ich pflege meine Vorurteile mit Hingabe – und habe immer wieder das Bedürfnis, mich gegen „dieses Vanlife“ bzw. die Version, die davon auf Instagram kursiert, abzugrenzen. Was vermutlich mehr über mich aussagt, als über die Menschen, die diese Lebensweise für sich gewählt haben. Und zudem ein völlig blödsinniges Vorurteil ist, wie ich nach ein paar Tagen zugeben muss. Klar, es gibt sie, die in Hochglanzmagazin-Optik ausgebauten und effektvoll beleuchteten Vans mit den dazu passend gekleideten Bewohnern. Aber die absolute Mehrheit der Leute unterscheidet sich nicht groß von uns: Menschen, die das Reisen lieben, an manchen Tagen die Gemeinschaft, an anderen Tagen das Alleinsein. Die die Welt entdecken wollen und die Unabhängigkeit schätzen. Und die sich dafür mit den selben Fragen herumschlagen, wie wir: Wo finde ich den nächsten Stellplatz? Woher bekomme ich Trinkwasser? Wo ist die nächste Tanke/der nächste Supermarkt/ der nächste Geldautomat/der nächste Waschsalon. Das „Escapar Baja“-Festival bringt sie zusammen, es wird geredet, gelacht, gegessen, getrunken, getanzt. Wissen und Werkzeug werden geteilt, Tipps und Telefonnummern ausgetauscht, Freundschaften geschlossen oder erneuert. Wie ein riesiges Summercamp. Wir treffen Sissi und Jannis wieder und Anne und Peter, mit denen sich unsere Wege seit dem Yellowstone Nationalpark immer mal wieder gekreuzt haben. Nora, Luhed und ihre beiden süßen Jungs, denen wir vor ein paar Wochen auf der Baja zum ersten Mal begegnet sind. Bilden zusammen mit Reisefreunden von Reisefreunden unser eigenes kleines Camp inmitten des riesigen Festivals, das sich im Übrigen als sehr viel entspannter und gemütlicher erweist, als ich es mir vorgestellt hatte. Der Tecolote Beach so riesig, dass Gedränge gar nicht nötig ist. Und so fließen die Baja-Tage dahin, gefüllt mit Gesprächen, Sonnenschein, Meeresrauschen und, ja, auch jeder Menge Sand im Bus. Aber damit kann ich als alter Strand-Profi inzwischen wunderbar leben.