Es fühlt sich an als seien wir in den letzten drei Wochen langsam aber sicher in eine Art Winterruhe geglitten. Mit sinkenden Temperaturen und schwindendem Licht, die selbst vor einem sonnenverwöhnten Ort wie Südkalifornien im Dezember nicht Halt machen, ist auch unser Entdeckerdrang zur Ruhe gekommen. Hat sich unser Tempo seit Kanada ohnehin schon deutlich verlangsamt, können wir uns nach einem etwas halbherzigen Abstecher nach Hollywood – irgendwas muss man ja unternehmen, wenn man schon mal in Los Angeles ist – zu keinen weiteren touristischen Aktivitäten aufraffen. Suchen uns stattdessen schöne Stellplätze und tüdeln am – oder vielmehr IM – Bus herum, da es draußen trotz mancher Sonnenstunde oft ganz schön kalt ist. Treffen uns mit Anna und Anne im Joshua Tree Nationalpark, erkunden diese von den namensgebenden, imposanten Yucca-Pflanzen bewachsene Wüste pflichtbewusst (okay, und auch ein bisschen neugierig – seit seinem Erscheinen 1987 gehört das Album „The Joshua Tree“ von U2 zu meinen Alltime Favorites. Es stand daher nicht ernsthaft zur Debatte, diesen Ort NICHT zu besuchen) auf zwei kurzen Trails, hängen ansonsten aber lieber auf einem der Campingplätze im Park herum, essen, quatschen, kochen und machen Lagerfeuer. Von hier kann man die Joshua Trees und die coolen knubbeligen Felsformationen schließlich auch sehen. Im Grunde – so fühlt es sich an – versuchen wir die Zeit bis zu den Weihnachtsfeiertagen und unserem Housesit in Oakland möglichst gemütlich herumzubringen. Lesen, arbeiten, sind nach fast sieben Monaten on the road im Energiesparmodus. Haben beide das Gefühl, mit den USA für den Moment fertig zu sein.
Für die Erfüllung eines Traums habe ich mich noch aufgerafft und Pläne geschmiedet: Einen Besuch im Yosemite Nationalpark. Im Sommer ist der Waldbränden zum Opfer gefallen. Jetzt stelle ich entzückt fest, dass man im Dezember tatsächlich die Chance hat, ohne langen Vorlauf einen Stellplatz auf einem der Campgrounds im Yosemite Valley zu ergattern. Nur, um dann im nächsten Augenblick auf der Webseite des Parks auf einmal die Warnung vor einem Wintersturm zu lesen, der das Valley für ein paar Tage lahmlegen könnte. Auf Schneemassen und Nachttemperaturen um -7 Grad sind wir nur so lala vorbereitet und der Nationalpark liegt ohnehin nur mit viel gutem Willen auf unserem Weg nach Okaland. Also entscheiden wir, die 350 Kilometer Umweg nicht zu riskieren. Zu hoch die Wahrscheinlichkeit, dass wir erneut kurz vor den Toren umdrehen müssen, wie bereits im Sommer.
Nico wirft einen anderen Vorschlag in den Ring: Der IT-Profi wünscht sich, seinen Geburtstag im Silicon Valley zu verbringen. Das liegt nun wirklich genau auf dem Weg nach San Francisco/Oakland – also packen wir unser Zeug zusammen und fahren los. Ohne große Erwartungen, eher froh, mal wieder aus dem Bus rauszukommen. Um es gleich vorweg zu nehmen; Aus dem Tag im Silicon Valley werden drei – und wir entdecken kurz vor Verlassen des Landes, in dem wir inzwischen rund fünf Monate verbracht haben, ganz unerwartet einen Ort, der uns fasziniert, bewegt, inspiriert und – ja, der Nico zum Abschluss auch noch mal ein bisschen versöhnt. Viele kritische Bemerkungen hat er in den letzten Wochen über unser derzeitiges Gastland fallen lassen, es als „macho-artig, „großspurig“ und auf unangenehme Weise „nationalistisch“ wahrgenommen. Nicht im persönlichen Gespräch – die Begegnungen, die wir mit den Menschen hier hatten, fand er allesamt super freundlich, interessiert und liebenswürdig. Aber das, was man in den Medien oder an jeder Ecke in Form von Werbung zu sehen bekommt, das nationale Selbstverständnis, das Nico daraus liest, stößt ihn ab. Er fühlt sich hier alles in allem nicht mehr übermäßig wohl, besonders in den Städten, die für ihn nach eigener Aussage „alle irgendwie gleich aussehen“. Im Silicon Valley jedoch finden wir einige uramerikanische Tugenden in hoher Konzentration vor, die eine mächtige Anziehungskraft auf uns ausüben – und die den Träumer, Tüftler und „Think big“-Verfechter in meinem Mann begeistern. Hier, auf diesem rund 100 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Stück Land südlich von San Francisco, erblicken seit beinahe einem Jahrhundert immer und immer wieder weltverändernde Entdeckungen und Erfindungen das Licht der Welt. Nirgendwo ist die Anzahl der brillanten Köpfe pro Büroetage höher und der Wille zur Innovation ausgeprägter. Was in anderen Zusammenhängen großspurige oder vermessene Züge annehmen mag, spielt hier all seine schöpferische Kraft aus: Selbstbewusstsein, Wagemut, eine „Fake it ‘til you make it“-Atitüde, harte Arbeit, exzellentes Marketing wo noch gar kein Produkt existiert, Begeisterungsfähigkeit, der Glaube an eine Idee, ökonomische Risikobereitschaft und die sehr amerikanische Eigenschaft, den Fokus auf die Aspekte zu legen, die FÜR eine Sache sprechen, nicht auf die, die dagegen sprechen. Oder um es mit den Worten zusammenzufassen, die den WhatsApp-Status unseres Freundes Christian zieren: „Bill Gates fing in einer Garage an. In Deutschland wäre er damit schon an der Gewerbeaufsicht gescheitert“. Leute, die Geschichte des Silicon Valley ist spannender als jeder Krimi! Und die dreiteilige Dokumentation „Silicon Valley – Wiege der Technologie“ erzählt sie viel besser als ich es könnte. Gebannt schauen wir sie uns abends an, nachdem wir den ganzen Tag mit großen Augen und immer voller werdendem Kopf durch das exzellent aufbereitete Computer History Museum in Mountain View gestreift sind. Am nächsten Tag gleich noch einmal hingehen, um mehr zu lernen. Drei Dutzend Namen aufschnappen, die die das Computer-Zeitalter mit ihren Erfindungen und Entwicklungen geprägt haben. Charles Babbage und Ada Lovelace, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine Rechenmaschine entwickeln, die als Vorläufer des modernen Computers gilt; Grace Hopper, die Ende der 1940er-Jahre auf die Idee kommt, Computerprogramme in einer verständlichen Sprache zu verfassen, anstatt nur in Einsen und Nullen; William Shockley, Erfinder des Transistors, einer der Grundpfeiler moderner Elektronik; Frederick Terman, Professor an der Stanford University und mit 500 Dollar der erste Risikokapitalgeber für seine beiden Studenten Bill Hewlett und David Packard, die damit 1939 in einer Garage in Palo Alto HP gründen (heute als „Geburtsort des Silicon Valley“ angesehen) und zusätzlich zu vielen technischen Innovationen bereits in den 1950er-Jahren eine Unternehmenskultur etablieren, die darauf ausgerichtet ist, dass Mitarbeiter sich maximal wohl fühlen; die „Fairchild Eight“, allen voran Robert Noyce und Gordon Moore, die später Intel gründen – das Unternehmen, das dann den programmierbaren Mikroprozessor entwickelt („die wichtigste Erfindung überhaupt“, beschwört uns der Dozent, der uns durch die Ausstellung führt); alles Pioniere, die den Aufstieg von Unternehmen wie Apple, Google, Facebook, Paypal, Amazon, Ebay und hunderten anderen erst möglich gemacht haben. Die das Silicon Valley mit einem Unternehmergeist und einem Spirit erfüllt haben, die Visionären wie Steve Jobs, Marc Zuckerberg oder Elon Musk einen fruchtbaren Nährboden für ihre Ideen und jede Menge fähige Talente für deren Umsetzung boten (etwa einen begnadeten Hardware-Ingenieur wie Steve Wozniak, ohne den die Ideen von Steve Jobs nie eine technische Grundlage bekommen hätten).
Das Computer History Museum steht an dem Ort, an dem all das geschehen ist und weiterhin geschieht. Wir fahren durch das Wohngebiet, in dem Steve Jobs aufgewachsen ist, vorbei an seiner Garage. Drehen eine Runde um die Firmengebäude von Apple in Cupertino, fahren durch eine Ecke von Mountain View, wo an beinahe jedem Gebäude der Firmenzug „Google“ prangt. Wo auch der Microsoft Campus liegt – ein Unternehmen, das in diesen ganzen Kosmos aus Vision, Innovation und Wagemut gehört, obwohl sein Hauptsitz nie im Silicon Valley lag, sondern in Seattle. Hübsch ist es überall. Gepflegt, grün, die Gebäude in den Wohnvierteln perfekt in Schuss, ohne nach protzigen Unternehmervillen auszusehen. Der Großraum von San Jose verzeichnet das dritthöchste Pro-Kopf-Einkommen der Welt (mehr Geld wird nur in Zürich und in Oslo verdient), nirgendwo in den USA stehen so viele Wohnhäuser, deren Wert die Eine-Million-Dollar-Grenze überschreitet. Man kann sich vorstellen, welchen persönlichen Einsatz die Menschen erbringen, um sich ein Leben hier leisten zu können. Und man kann nur erahnen, hinter wie vielen dieser schicken Fenster und Türen an Zeitmangel zerbrochene Ehen stecken, ausgebrannte Väter oder Mütter und Menschen, die nie Zeit haben, ihre Erfolge zu genießen.
Anfangs staune ich, dass mich das alles so fasziniert – ich bin mit dem technischen Verständnis eines Kapuzineräffchens ausgestattet, ich bin der DAU, von dem immer alle sprechen. Aber was mich magisch anzieht ist die Geisteshaltung, die hinter all dem hier steckt. Diese Leute hier denken groß. Sie trauen sich was – und oft werden sie dafür belohnt, dass sie sich etwas vorstellen konnten, von dem viele andere behauptet haben, eine solche Idee habe nie eine Chance. Sie riskieren krachendes Scheitern, weil sie von einer Sache felsenfest überzeugt sind. Scheitern oft genug krachend – im ersten oder zweiten Anlauf. Geben aber nicht auf. Lernen daraus, machen es beim nächsten Versuch besser – und bringen etwas hervor, das das Leben von Milliarden Menschen auf der Welt verändert. Risikokapitalgeber und die Vernetzung der Kreativen und Cleveren untereinander bilden die Grundlage für den Erfolg im Silicon Valley – aber auch das Scheiterndürfen, das Rumprobieren, das Spielen. Das Spinnen. Das ist so unglaublich amerikanisch – in der Kultur, aus der ich komme, kaum vorstellbar. Es ist das Pionierdenken einer Nation, die von Pionieren erschaffen wurde – und es macht Spaß und beflügelt, sich auf diese Spuren zu begeben. Ein Highlight zum Abschuss unserer Reise durch die USA, das uns noch einmal ganz und gar mit dem Glücksgefühl des Entdeckers erfüllt, der über etwas Unerwartetes stolpert. Bevor wir uns jetzt für die Feiertage zu Frank, der French Bulldog, auf die Couch verkrümeln.
Was für ein toller, sprudelnder und versöhnlicher Beitrag! Jetzt müssen wir wohl auch nochmal ins Silicon Valley!
Nerd Heaven ;-D