Montana haut mich um. Ohne große Vorhaben oder Bilder im Kopf rollen wir auf den kleinen Grenzübergang bei Carway zu, der die kanadische Provinz Alberta vom US-Bundesstaat Montana trennt. Treu begleitet uns seit drei Wochen die goldene Herbstsonne und taucht die kurze Strecke vom Waterton Nationalpark – unserer letzten Station in Kanada – zur Grenzstation in verträumtes Licht. Wir sind das einzige Fahrzeug, das auf das Grenzhäuschen zu fährt. In meinem Magen hüpft und zappelt etwas. Ich bin kein besonders ängstlicher Mensch und mache mir selten Sorgen um etwas, das in der Zukunft vielleicht passieren könnte. Aber wir haben in den letzten Jahren so viele Geschichten von Reisenden gehört, die an US-Grenzen auf irgendeine absurde Weise Schwierigkeiten bei der Einreise bekommen haben, dass ich mir schon in Deutschland ausgemalt habe, was wir wohl machen werden, falls uns ein Beamter die Wiedereinreise aus Kanada verweigert. Es gibt halt nur einen Landweg nach Mexiko, und der führt durch die USA. Nun beschleicht mich diese Frage erneut. Aber auch an anderen Grenzen – selbst innerhalb der EU, als die letzten Sommer mal wieder besetzt waren – fühle ich mich eigentlich immer wie vor einer Mathearbeit: schlecht vorbereitet, mit großen Lücken in den zu überprüfenden Sachgebieten, dem strengen Lehrer ohnehin nicht gewachsen und absolut sicher, etwas grandios falsch zu machen. Aber einmal mehr lehrt mich das Leben an diesem sonnigen frühen Nachmittag: Die Sorgen waren – anders als bei 80 % meiner Mathearbeiten – völlig unberechtigt. Der Grenzbeamte fragt uns durch sein kleines Fensterchen hindurch, ob wir Tomaten oder Orangen an Bord haben (natürlich nicht, schließlich haben wir uns vorher schlau gemachten, welche Lebensmittel aus Seuchenschutzgründen auf der roten Liste der US-Einreisebehörden stehen). Wie lange wir in Kanada waren. Wohin wir als nächstes wollen. Ob das unser Auto ist. Ich habe alle Unterlagen griffbereit: Reisepässe, ESTA (die elektronische Einreise-Anmeldung, die jeder USA-Besucher im Vorfeld machen muss und die zwei Jahre lang gültig ist), Impfausweise, Fahrzeugpapiere, Einfuhrgenehmigung und Umweltzertifikat für den Bond, KFZ-Versicherung, Führerscheine. Der Grenzer erklärt uns, wo wir unseren Bus parken können, und bittet uns hinein. Einmal Fingerabdrücke nehmen, wie bei der Einreise am Flughafen von New York, noch ein paar Fragen, dann wünscht er uns gute Reise. Mehr nicht. Kein Blick in den Bus, keine Fragen nach den Unterlagen für das Fahrzeug, alles, was er sich anschaut, sind Reisepässe und ESTA. Umsonst gesorgt.
Mit immer noch leicht zappeligem Magen fahren wir die ersten Meilen (jetzt müssen wir ja wieder in amerikanischen Maßeinheiten denken) Richtung Süden – über uns der unendliche Himmel von Montana. Nach einer halben Stunde biegen wir bei St. Mary in den Glacier Nationalpark ab: In einem der vielen Hochglanz-Reisemagazine, die ich jahrelang gehortet habe und die meine Freunde bei zahllosen Umzügen beim Schleppen der Bücherkisten zum Fluchen gebracht haben, wurde die Going-to-the-Sun-Road gepriesen, die quer durch den Park verläuft – und die will ich sehen. Leider ist sie seit Ende September nur bis zum Logan Pass befahrbar, der Abschnitt dahinter wird vor dem Winter noch schnell instand gesetzt. Einer der Nachteile, wenn man nach Ende der Saison unterwegs ist. Neben zahllosen bereits geschlossenen Campingplätzen, Visitors Centers und anderer touristischer Infrastruktur. Für uns aber überwiegend ganz klar die Vorteile der Nachsaison: Unser Campingplatz im Park kostet nur noch die Hälfte, auf den Plätzen, die wir in den vergangenen Wochen angesteuert haben, ist kaum noch was los und wir haben Wanderwege und Aussichtspunkte oft ganz für uns allein. Das alles gepaart mit dem grandiosen Herbstwetter empfinden wir als großes Glück. Vor allem letzteres ist alles andere als selbstverständlich: Die Kassiererin in dem kleinen Baumarkt kurz vor der Grenze, in dem wir unsere letzten kanadischen Dollars in Campinggas und Toffifee umsetzen, erzählt uns, dass sie vergangenes Jahr um dieses Zeit bereits die ersten Schneestürme hatten. Und die weißhaarige Lady, die den General Store an der Straße durch das verschlafene Dupuyer betreibt, an dem wir halten, weil er aussieht wie direkt aus einem Western-Bilderbuch entsprungen, meint, dass sie sich nicht erinnern könne, je so einen goldenen Oktober erlebt zu haben. Ich nehme das mal als Entschädigung des Schicksals für SEHR VIELE verregnete Reisen in meinem Leben, die mir über die Jahre bereits einen gewissen Ruf bei Freunden und Kollegen eingebracht haben. Nach einem Urlaub wurde ich oft nicht gefragt, wie es war, sondern nur, ob es wieder so schlimm geregnet hat wie beim letzten Mal…
Die Going-to-the-Sun-Road. Hatte ich in den letzten Wochen schon geglaubt, mit einem Indian Summer beglückt worden zu sein, setzt die 18 Meilen lange Strecke hoch zum Logan Pass nochmal einen drauf. Links der Straße glitzert der fast zehn Meilen lange Saint Mary Lake, vor und hinter und neben uns leuchten die Bäume in goldgelber Pracht. Wir begeben uns vom Parkplatz am Logan Pass auf eine Wanderung zum Hidden Lake – und ich eskaliere völlig beim Fotografieren. Kann mich nicht sattsehen an der Kulisse und den Herbstfarben, der Sonne und den Bergen und all der Pracht um mich herum.
Und das geht seitdem immer so weiter. Seit vorgestern sind wir auf dem Weg zum knapp 1.000 Kilometer entfernten Yellowstone Nationalpark. Meiden die schnelle Interstate und fahren stattdessen auf kleineren Highways durch die unfassbare Weite Montanas. Über uns dieser Himmel, der dem Bundesstaat den Beinamen „Big Sky“ eingebracht hat. Von Horizont zu Horizont spannt er sich, darunter trockene Prärie, kleine Farmen, weites Weideland, auf dem schwarze Angusrinder gemütlich grasen. Ortschaften wie aus Western. Sanft geschwungene Hügel und in der Ferne schimmernde Bergketten. Mehr herbstlicher Farbrausch am Belt Creek, dessen Verlauf wir für viele Meilen auf dem Highway 89 folgen. Die sinkende Sonne taucht das liebliche Farmland und die schier endlosen Weiten in weiches Licht, hinter mir in zarten Schattierungen von Rosa und Lavendel, vor mir in Pfirsichgold. Ich möchte die Bilder und die Farben festhalten, die friedliche Stimmung und die grandiose Weite. Aber dafür reicht weder die Qualität meiner Handykamera noch die meiner Fotografiekenntnisse. Also sauge ich einfach alles in mich auf, bis die Dunkelheit alle Farben und Weiten verschluckt hat. Ich hatte die Bilder des berühmten amerikanischen Malers Charles M. Russell, die wir gestern im Museum in seiner Heimatstadt Great Falls betrachtet haben, für Verklärung gehalten. Aber ich schwöre: Der „Cowboy Artist“, wie ihn die Amerikaner liebevoll nennen, hat mit keinem einzigen seiner in Öl verewigten Landschaften und Lichtstimmungen übertrieben. Ich fühle mich, als würden wir seit drei Tagen durch ein Gemälde fahren. Montana haut mich um.
Nach dem Yosemite kommt bei mir Montana direkt auf Platz zwei der schönsten Plätze auf Erden. Beneide Euch sehr. Mal schauen, wer bei Bond vs Bison gewinnt.
GTT
Wir haben gewonnen! 🙂
Schönste Plätze auf Erden – ja, diese Einschätzung teile ich voll und ganz. Und ich glaube, wir haben einen Weg gefunden, Yosemite auf dieser Reise DOCH noch zu sehen…
Wunder-, wunder-, wundervoll –
Eure Fotos! Beglückend!
Dankeschön 🙂 ich freu mich, dass ich mein Glück teilen kann!
Ich kann den anderen Kommentaren nur beipflichten, ein Traum , genießt es. Schöne Zeit weiterhin 🙂
Unfortunate you couldn’t get beyond Logan Pass. We enjoyed many summers exploring the area around West Glacier when our kids were young (a long, long time ago).
But at least you got to ride the Myra Canyon trail, something we still haven’t done!!
Myra Canyon was really lovely! And thanks to your recommendation we took Highway 33 all the way from Kelowna to Rock Creek afterwards, which we enjoyed very much! Waterton and Glacier NP – well, we’ll have to come back some day 🙂
All the best to the two of you and Harley!