Sie sitzt auf dem niedrigen Fenstersims vor der Eingangstür des Ladens, Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, und telefoniert. Neben sich einen schmuddigen Rucksack, an dem außen ein Paar Sandalen hängt, das ziemlich mitgenommen aussieht. Ihre Haare sind zu Zöpfen geflochten, der Kopf von einer sandfarbenen Basecap bedeckt. Ihre staubigen Beine stecken im kurzen Sporthosen, die Füße in Wanderstiefeln, deren Farbe man unter dem Staub nicht mal mehr erahnen kann. Mein Bauch macht einen kleinen Hüpfer: eine PCT-Hikerin! Auf der Suche nach einem Abfalleimer für die beiden Beutel Müll, die sich in den drei Tagen angesammelt haben, die Nico und ich im Bus auf dem Woodrat Mountain im Süden Oregons verbracht haben, sind wir in Medford zufällig vor einer Filiale von R.E.I. gelandet. DEM Outdoor-Ausrüster in den USA, der seit mehr als 80 Jahren Sport- und Outdoor-Begeisterte mit dem nötigen Equipment für alle Arten von Abenteuern ausstattet. Eine als Kooperative geführte Kette mit rund 170 Filialen, die den rund 20.000 Mitgliedern „gehört“. Und die 70 % ihres jährlichen Gewinns in die Outdoor-Szene sowie Non-Profit-Projekte reinvestiert. Ein abgefahrenes Businessmodell in einem turbokapitalistischen Land wie den Vereinigten Staaten. Und ein erfolgreiches. Ich habe zum ersten Mal von R.E.I. gehört, als ich das Buch „Wild“ von Cheryl Strayed verschlungen habe. Einer jungen Frau, die 1995 den Pacific Crest Trail – den legendären PCT – wandert, um vor ihrer Vergangenheit zu fliehen und sich neu zu finden. Schlecht vorbereitet und ahnungslos begibt sie sich auf die knapp 4.300 Kilometer lange Tour de Force entlang der Pazifikküste zwischen der mexikanischen und der kanadischen Grenze. Und findet unterwegs ihre Kraft zum Gehen – und zum Leben. In einer Szene geben ihre Wanderschuhe endgültig den Geist auf. Sie findet in einem Camp ein Telefon und ruft bei R.E.I. an – die ihr umstandslos ein neues Paar ans nächstmögliche Post Office schicken. Seitdem ist R.E.I. für mich ein Synonym für den PCT – der wiederum, seit ich das Buch gelesen und den Film mit Reese Witherspoon in der Hauptrolle gesehen habe, ein großer Traum für mich ist. Nach der Lektüre des Buches 2014 habe ich sofort eine Packliste inkl. Gewichtsangaben aller benötigter Ausrüstungsgegenstände erstellt, mir einen Trekkingrucksack und einen Ultralight-Schlafsack gekauft, mir von meinen Eltern zum Geburtstag ein Paar Bergstiefel und Wanderstöcke gewünscht – und damit Anker gesetzt, mit deren Hilfe ich den Traum quasi schon mal in der Realität befestigt habe.
Als ich die junge Frau mit den braungebrannten, staubigen Beinen vor dem R.E.I. sehe, ist der Traum mit aller Macht zurück. Er war ein bisschen in der Hintergrund gerutscht in den letzten Jahren. Immer, wenn ich irgendwo einen Bericht über den PCT gesehen habe oder von jemandem gehört, der ihn gegangen ist, hat sich mein Herz kurz geregt: Ja, den mache ich irgendwann auch mal. Aber wie das so ist mit „Irgendwanns“: Ohne konkrete Vision mit Deadline bleiben Ziele Träume. Nicht schlimm, Wünsche ändern sich ja auch. Und in den letzten Jahren ist das Bild von mir auf dem PCT eben ein wenig verblasst. Aber hier in Medford, nur wenige Meilen vom Trail entfernt und als ich mich an dem staubigen Mädchen vorbei durch die Tür in den R.E.I. schiebe, wird der alte Wunsch wieder sehr real und lebendig. Drinnen noch mehr staubige Beine und braungebrannte Gesichter. Offenbar kommen viele der PCT-Hiker während der Tour hier vorbei, um Equipment zu ersetzen oder Vorräte aufzustocken,. Viele Möglichkeiten gibt es dazu ja nicht, der größere Teil des Weitwanderweges führt durch wilde Natur fernab der Zivilisation. Vor der Umkleide schnappe ich einen Gesprächsfetzen auf „Ja, wir hatten verdammt Glück, das Feuer war nur fünf Meilen von uns entfernt heute Nacht!“ Das Feuer? Auch wir haben gestern Abend, als wir auf unserem Berg ins Bett gegangen sind, den Brandgeruch bemerkt. Die Nebelschwaden, die in Richtung Ashland in der Bergen am Horizont hingen, deutlich näher als noch während des Tages. Eine schnelle Recherche im Internet auf den einschlägigen Webseiten der Brandschutzbehörden von Süd-Oregon erbrachte aber keine konkreten oder aktuellen News, daher sind wir beruhigt schlafen gegangen.
An der Kasse frage ich die Mitarbeiterin, ob immer so viele PCT-Hiker im Laden sind. Sie berichtet, dass heute morgen ein 110 Meilen langer Abschnitt zwischen Kalifornien und Ashland wegen Waldbränden gesperrt wurde. Die Wanderer den Abschnitt verlassen mussten und sich daher jetzt in den umliegenden Ortschaften sammeln. Dann fragt sie mich, ob ich Mitglied bei R.E.I. bin. Ich verneine, „wir leben nicht in den USA. Aber wenn wir eines Tages den PCT gehen, werde ich vorher Mitglied“. Sie lacht. „Die Mitgliedschaft kostet einmalig 30 Dollar und gilt ein Leben lang!“ Ein Bild zuckt über meine innere Leinwand, und ich folge einem spontanen Impuls. Da, an der Kasse, gebe ich mir selbst das Versprechen, den PCT zu gehen. Und als „Vertragsbestätigung“ werde ich Mitglied bei R.E.I. „Bekomme ich eine Mitgliedskarte?“ Ähnlich wie den Jahrespass „America the Beautiful“ möchte ich auch für diesen Pakt mit mir selbst etwas in der Hand haben. Etwas, das ich als Symbol für meinen Traum berühren kann. „Mitgliedskarten haben wir leider nicht.“ Mein Blick fällt auf die kreditkartengroßen Gift Voucher mit den hübschen Motiven neben der Kasse. Kurz entschlossen lasse ich davon eine mit dem Mindestbetrag von zehn Dollar aufladen und bitte die Kassiererin, meine Mitgliedsnummer hinten drauf zu notieren. Sie strahlt: „That is so sweet!“. Ja, ich nehme meine neue Würde als R.E.I.-Mitglied sehr ernst.
Und dann sind wir wieder draußen, in der 40 Grad heißen Luft. Vor dem Laden sitzen inzwischen drei staubige Wanderer und nutzen das kostenfreie WLAN, um ihren Lieben zu Hause Bescheid zu sagen, dass sie sicher vor dem Feuer sind. Und ich weiß zwar immer noch nicht genau, wann ich den PCT gehen werde und wie (ich werd‘ ja auch nicht jünger. Aber es verbietet einem schließlich auch keiner, zwischendurch immer mal ein paar Tage Pause zu machen, wenn es nicht anders geht. Dass in einem Rutsch durchzuziehen, überlasse ich gern den jungen Leuten) Aber DASS ich ihn gehen werde, dessen bin ich mir zumindest in diesem Moment sicher. „Und alles nur, weil wir auf der Suche nach einem Mülleimer zufällig hier gelandet sind“, sage ich zu Nico. Und höre sofort die Stimme meines Bruders in meinem Kopf: „Es gibt keine Zufälle“.