Und wieder stehen wir mit unserem Bus am Straßenrand und fragen uns, was wir als nächsten tun sollen. Nicht überrumpelt und geknickt wie beim letzten Mal, sondern eher ernüchtert und ideenlos. Gestern hatten wir beschlossen, unser Glück noch einmal herauszufordern und zu versuchen, auf die Fähre nach Kreta zu kommen. Sind die zweieinhalb Stunden von Nafplio nach Gythio gefahren und haben dort heute morgen alle Stellen abgeklappert, von denen wir uns Informationen oder Hilfe versprochen haben: das Fährbüro, die Polizei, die Küstenwache. Das Ergebnis: Wir dürfen nicht nach Kreta. Wir haben keine gesundheitlichen Gründe vorzuweisen, keinen Arbeitgeber, der uns bescheinigen würde, dass unsere Überfahrt nach Kreta beruflich unvermeidbar ist, keinen Wohnsitz dort. Ein negativer PCR-Test oder Quarantäne sind nichts, was einen Regionswechsel möglich machen würde – so sind die Regeln. Theo, unser Gastgeber in Nafplio, hatte uns erzählt, dass man in Griechenland unter normalen Umständen durchaus flexibel mit Regeln umgehe – auch an offizieller Stelle. Bei Corona aber endet die Flexibilität: Die Beamten, mit denen wir sprechen, lassen daran nicht den geringsten Zweifel. Wir verstehen es und finden es absolut richtig. Aber wir hatten trotzdem das Gefühl, dass wir zumindest versuchen müssen, herauszufinden, ob es irgendwo ein Schlupfloch gibt. Gibt es nicht. Wohin jetzt also?
Seit fast fünf Monaten sind wir nun in Griechenland, den überwiegenden Teil der Zeit haben wir auf dem Peloponnes verbracht. Und seit fast fünf Monaten bilden die hiesigen Lockdown-Bedingungen den Rahmen für beinahe jede Entscheidung, die wir mit Blick auf unsere Reise treffen. Halbherzig beschließen wir nach unserem erfolglosen Gang durch die Behörden, Neapolis anzusteuern, einen Ort an der Ostseite des lakonischen Golfs, an dem auch Gythio liegt. Wir fahren ein paar Kilometer – dann frage ich ins Brummen des Motors hinein, was genau wir da eigentlich wollen und ob es wirklich so eine gute Idee ist, uns an den südöstlichsten Zipfel des Peloponnes zu begeben, von wo aus jeder Weg, egal wohin, ganz schön weit ist. Nico zieht den Wagen an den Straßenrand. „Lass uns ein bisschen spazieren gehen, dabei kann ich besser denken.“ Wir marschieren an einer tristen Ortsdurchfahrtsstraße entlang und wägen unsere Optionen ab, während die Autos an uns vorbeibrausen. Einen neuen Stellplatz suchen. An dem wir nicht viel machen können außer unseren täglichen Verrichtungen nachzugehen und aufgrund der immer noch recht frischen Temperaturen viel zu viel Zeit im Innern des Busses zu verbringen – was auf Dauer an unseren Nerven und unserer Rückengesundheit nagt. So lange schon haben wir uns auf verschiedenen Stellplätzen die Zeit vertrieben, immer mit dem Gedanken im Hinterkopf, unseren Aufenthalt nicht zu sehr auszudehnen, um nicht irgendwann fürs Wildcampen hopsgenommen zu werden, weil regelmäßige Passanten unsere Anwesenheit vielleicht nach ein paar Tagen unverschämt finden. Das ist auf Dauer ganz schön stressig. Griechenland verlassen. Nach Albanien oder Nordmazedonien weiterreisen, wo die Corona-Regeln viel lockerer sind – die Fallzahlen allerdings auch viel höher. Dort hätten wir zwar auf dem Papier mehr Freiheiten, aber ob das genügt, um unbeschwert zu reisen? Hinzu kommt, dass es in diesen Ländern derzeit noch ziemlich kalt ist, auch das nicht gerade verlockend. Die Türkei? Da ist es warm und sonnig, andere Busreisende schwärmen von supernetten Menschen und Begegnungen, von billigem und gutem Essen. Geschäfte, Restaurants und antike Stätten sind geöffnet, wildcampen absolut toleriert. Seit zwei oder drei Wochen erwägen wir diese Option immer mal wieder. Aber auch in der Türkei steigen die Infektionszahlen unleugbar – nicht unwahrscheinlich, dass wir dort ankommen und kurze Zeit später im nächsten Lockdown stecken.
Und wenn wir einfach zu Theo und seiner Familie, seinen Katzen und Hühnern, der Waschmaschine und der Badewanne nach Nafplio zurückfahren und uns dort für die nächsten vier Wochen einquartieren? Uns das Paket aus Deutschland, in dem eine Warmwasseranlage für Mr. Norris steckt, dorthin schicken lassen und das Ding auf Theos großem, ruhigen Hof einbauen? Eine spontane Idee, die ich ausspreche in dem Moment, in dem sie mir durch den Kopf zuckt. Und die sich irgendwie richtig anfühlt. Uns aus der Lage befreit, jeden Tag neu entscheiden zu müssen, was wir unter den gegebenen Umständen tun oder lassen sollen. Die mich gleichzeitig mit leiser Traurigkeit erfüllt, da sie der stumme Sieg der Realität über die Wünsche ist. Wir rufen Theo an und fragen ihn, ob das kleine Apartment, in dem wir die letzten Tage verbracht haben, verfügbar ist. Steigen in den Bus, wenden und fahren zurück nach Nafplio.