Das Geheimnis der Zeit und der Glaube an das Gute

Ich habe das Geheimnis der Zeit entschlüsselt. Kommt man an einen Ort, an dem man noch nie war, verrinnt sie langsam und gemächlich. Kommt man später erneut an diesen Ort, verfliegt sie unbemerkt und plötzlich ist es acht Tage später und man fragt sich erstaunt: „Hä?“. Naja, ganz so einfach ist es vermutlich nicht. Aber der Gedanke drängt sich mir auf, als wir ein zweites Mal in der Bucht von Tyros stehen und es plötzlich nächsten Donnerstag ist. Ohne dass ich überhaupt sagen könnte, was mit den Tagen dazwischen passiert ist. Ja, wir sind schon einmal in ein Zeitloch gefallen in Tyros, aber das war anders. Da konnte ich die Zeit dabei beobachten, wie sie mir wunderbar ereignislos durch die Finger floss. Ich habe das Verstreichen der Stunden und Tage zur Kenntnis genommen. Dieses Mal ist es wie ein Sprung. Zack, nächsten Donnerstag. Vielleicht habe ich aber auch gar nicht das Geheimnis der Zeit entdeckt, sondern das Geheimnis von Tyros? Unter diesen Umständen bin ich nicht sicher, ob ich mich traue, noch ein drittes Mal nach Tyros zu fahren, wer weiß, ob wir dann in der Zeit zurückreisen oder ganz daraus verschwinden…

Sei‘s drum. Wir sind nach Nafplio abgehauen, einen Ort, an dem wir ebenfalls schon mal waren. Haben aber zur Sicherheit eine andere Unterkunft ausgewählt – nur für den Fall, dass ich das Geheimnis der Zeit tatsächlich entschlüsselt habe und uns in einer Wohnung, in der wir schon mal waren, plötzlich wieder eine Woche abhanden kommt und wir irgendwann völlig den Überblick verlieren. Neben den Schwarzes-Loch-artigen Eigenschaften von Tyros haben uns dort vor allem zwei Dinge vertrieben: Wind und sehr viel schmutzige Wäsche. Darauf sind wir ein bisschen stolz, denn was uns NICHT vertrieben hat, ist das zweimalige Erscheinen eines sehr offiziellen Dienstfahrzeugs der arkadischen Küstenwache, das eines nachmittags – wir sind just auf dem Weg zum Müllcontainer und bereits etwa 200 Meter weit weg von unserem Bus – an uns vorbei Richtung unseres Stellplatzes fährt und uns in sofortige Grübeleien stürzt: Was wollen die da unten? Kommen sie unseretwegen? Haben sie aus den prall gefüllten Müllbeuteln in unseren Händen den vollkommen korrekten Schluss gezogen, dass WIR es sind, die normalerweise in dem jetzt gerade unbemannten Fahrzeug wohnen? Können wir je dorthin zurückkehren oder werden sie dort auf uns warten und wir müssen den Rest der Weltreise zu Fuß machen, um das Bußgeld zu umgehen? Wir beschließen erst mal, uns total cool gar nichts anmerken zu lassen und einfach unseren Müll wegzubringen. Auf dem Rückweg vom Container kommt uns der Wagen erneut entgegen und wir sind plötzlich gar nicht mehr cool, halten die Luft an und sondieren mit hektischen Blicken mögliche Fluchtwege (keine; rechts Steilwand, links Abgrund) – aber das Auto rollt nur an uns vorbei und entschwindet. Drei Minuten später folgt das Mopped mit dem Angler drauf, der bis eben noch, wie jeden Tag, bei uns unten in der Bucht vor sich hin gefischt hat. War er der Grund für den Besuch der Küstenwache? Angeln ist im Lockdown verboten – das ist es allerdings schon seit November, und es schert sich kein Mensch drum. Vor ein paar Tagen wurde der Lockdown verschärft – vielleicht müssen die Behörden jetzt härter gegen unlauteres Angeln vorgehen? Am nächsten Nachmittag – wir haben uns gerade in den Bus verkrümelt und die Türen zugezogen, da es draußen kalt geworden ist – hören wir erneut das Knirschen von Reifen auf Schotter und der Wagen der Küstenwache schiebt sich in unser Blickfeld. Hält direkt neben unserem Bus. Zwei Beamte steigen aus, werfen einen knappen Blick in unsere Richtung – und knöpfen sich dann die beiden Männer vor, die vor einer Weile mit ihren Moppeds angeknattert kamen und die Angeln ausgeworfen haben. Der Mann vom Vortag ist heute nicht gekommen, hat es aber offenbar versäumt, seine Angelbrüder zu warnen, denn deren Stimmen werden immer lauter, als einer der Beamten ein großes Klemmbrett mit Formularen herausholt und die Personalien der Männer aufnimmt (ich beobachte alles flach auf den Boden unseres Busses gepresst und mit nur einem Auge durch die getönte Scheibe schielend, durch die man von außen gar nicht hineinschauen kann, aber sicher ist sicher). Zehn Minuten lang haben wir die Chance, Fluchen und Schimpfen auf Griechisch zu lernen, dann ziehen sich die beiden Beamten, die den Tiraden der Männer die ganze Zeit über mit stoischer Ruhe zugehört haben, wieder in ihren Wagen zurück – und fahren ab. Ohne uns eines weiteren Blickes zu würdigen oder sich überhaupt nur die Frage zu stellen, warum wir da so rumstehen mitten in einer Bucht. Nico kriecht aus dem Fußraum der Fahrerkabine hervor, in dem er sich versteckt hat, und seufzt erleichtert. Ich beobachte weiter die beiden Angler, die übellaunig ihr Zeug zusammenpacken und dann abrauschen. Arme Schweine. Vergehen gegen die Corona-Richtlinien werden mit 500 Euro geahndet, das Ausmaß des Fluchens lässt mich vermuten, dass die Beamten wenig Kulanz gezeigt haben. So viel Fisch muss man erst mal fangen…

Danach taucht kein Angler mehr in der Bucht auf, Und auch keine Küstenwache. Dafür werden unsere Jeans immer schmutziger und der Wind immer biestiger – und wir ziehen mal wieder die Karte „Waschmaschine, Couch und Badewanne“. Der Genuss währt ziemlich genau 24 Stunden, dann erschüttert eine Mail unseren Glauben an das Gute in Versicherungsgesellschaften und sorgt dafür, dass wir innerhalb einer halben Stunde einen Plan aus dem Hut ziehen, mit dem es uns mit ganz viel Glück gelingen könnte, in fünf Tagen wieder in Deutschland zu sein. Denn genau so lange gilt unsere Langzeit-Auslandskrankenversicherung noch (wir hatten mal geplant, Mitte März heimzufahren und von da nach Amerika zu verschiffen. Damals… als wir noch Pläne mit Datum gemacht haben… was soll ich sagen…). Deren Verlängerung eigentlich Formsache ist. Eigentlich. Solange kein Corona herrscht. Ungerührt teilt mir unsere Versicherung viele Tage nach meiner schriftlichen Bitte um Verlängerung in besagter Mail mit, dass sie zwar verpflichtet seien, uns zu versichern, nicht aber, unsere Versicherung zu verlängern. Da, wie jeder wisse, schwere Zeiten herrschten, sehe man von einer Verlängerung ab. Wir mögen bitte Verständnis haben. Haben wir nicht. Vor Wut schäumend weiß ich nicht, was ich zuerst tun soll: Der Dame eine gesalzene Antwort schicken und ihr mitteilen, dass sie sich die Versicherung über 24 Monate inklusive USA/Kanada, die wir eigentlich nächstes Jahr bei ihnen abzuschließen gedacht hätten und deren enorme Beitragshöhe vermutlich ihr Weihnachtsgeld sicherstelle, nun in die Haare schmieren könne, da wir zur Konkurrenz (ich wäre bereit, Namen zu nennen) gingen. Oder nach einer neuen Versicherung recherchieren, falls Nico sich in den nächsten fünf Minuten beim Salatmachen den Finger abschneidet und Notfallbehandlung sowie Rücktransport ins Heimatland länger als fünf Tage dauern sollten. Ich entscheide mich für zweiteres und finde das heraus, was ich schon längst weiß: Alle Reisekrankenversicherungen müssen stets vor der Abreise im Heimatland abgeschlossen werden. Sollte ich auf die irre Idee kommen, online eine Auslandskrankenversicherung abzuschließen (was ohne Probleme möglich ist, keiner Prüfung unterliegt und dafür sorgen würde, dass ich morgen die Police im Mailfach hätte), bestünde kein Versicherungsschutz, da ich sie aus dem Ausland und nach Abreise abgeschlossen hätte. Eine innere Stimme sagt mir, dass die Versicherung im Schadensfalle nichts unversucht lassen würde, um genau das zu überprüfen und uns nachzuweisen, dass wir schon längst gemütlich in Griechenland saßen und das Internet mit Blogbeiträgen zugekleistert haben, als wir den „Kostenpflichtig buchen“-Knopf gedrückt haben. Ich durchforsten das gesamte Netz – es muss doch irgendeine nette Versicherung geben, die man auch aus dem Ausland abschließen kann? Ich scrolle an gut gekeywordeten aber leider schlecht zu meiner eigentlichen Suchanfrage passenden Seiten vorbei, die mir wieder und wieder Krankenversicherungen anbieten, die zwar FÜR das Ausland gelten, nicht aber AUS DEM Ausland abgeschlossen werden dürfen. Und finde die BDAE. „Für digitale Nomaden, Weltreisende und Globetrotter“ steht auf ihrer Webseite. Das sind doch wir! Und tatsächlich – Halleluja! – kann man denen Langzeit-Auslandskrankenversicherungen aus dem Ausland abschließen. Okay, das lassen sie sich gut bezahlen. Aber hey, wir sind in Not, da guckt man nicht aufs Geld. Es ist Freitag, in Deutschland nach 16.30 Uhr – und trotzdem geht da in Hamburg noch einer ans Telefon. Kein Call-Center. Herr K., ein echter Berater. Beantwortet geduldig meine Fragen (während seine Kollegen vermutlich alle schon an ihm vorbeimarschieren und ihm tonlos ein schönes Wochenende wünschen) und lässt mich am Ende mit dem beruhigenden Gefühl auflegen, dass unser Geld und unser Leben bei ihm in vertrauensvollen Händen sind. Unser Glaube an das Gute in Versicherungsgesellschaften ist wiederhergestellt, ich gehe Wäschewaschen.

6 Kommentare

  1. Auf Anraten Deiner Mutter, Brit, habe ich heute mal wieder Euren Blog gelesen. Die Beiträge sind immer sehr lesenswert, weil Deine Sprachkompetenz das Erlebte sehr lebendig und anschaulich macht. Da gibt es viele Blogs, die eher einem Sachbericht ähneln. Deine Beiträge nähern sich literarischem Niveau. Mal abgesehen von den wunderschönen Aufnahmen, die mich als Geograph und Hobbyfotograf begeistern.
    Nun zu den Zeitsprüngen. Meine Tochter behauptet auch immer, dass es Zeitsprünge in ihrem Leben gibt. Wenn sie zum Beispiel Klavier übt und einen Termin hat, ist der Termin urplötzlich da – oder schon vorbei – obwohl sie sich doch gerade erst ans Klavier gesetzt hatte. Das heißt, immer wenn sie etwas Schönes macht, verfliegt die Zeit und es gibt unerklärliche Zeitsprünge, bei uns ‚Time-Gap‘ genannt. Wir erfahren Deine oben beschriebenen Zeitlöcher, wenn wir uns in Schweden im Glaskogen auf Platz 28 des dortigen Campingplatzes befinden. Man lässt den lieben Gott einen guten Mann sein und trödelt durch die Tage mit Schlafen, Essen, Lesen, Dösen, Schwimmen, Vögel beobachten und meditativ auf den See schauen. Eine Woche fliegt dann vorbei, weil ein Tag dem anderen gleicht und man nach einer Woche den ‚Hä?‘- Effekt verspürt. Unternehmen wir aber jeden Tag etwas (Wandern, Padeln etc), ist eine Woche doch deutlich länger.
    Ihr seht, Ihr seid nicht allein mit Zeitsprüngen.
    Liebe Grüße
    und bleibt gesund
    Fritz

    1. Lieber Fritz, ich freue mich sehr, hier von Dir zu lesen. Und über Dein Lob für unseren Blog mindestens ebenso. Es ist schön, dass wir nicht die einzigen sind, die ab und zu die Zeit verlieren – vielleicht ist dass das berühmte „Im Hier und Jetzt Sein“, von dem immer alle sprechen? 🙂 Liebe Grüße und bleibt gesund und munter!

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