Sardinien hatte es bisher nicht leicht mit mir. Ich war so beschäftigt damit, mit den Ungemütlichkeiten unseres Reisedaseins zu hadern, dass ich kaum ein Auge oder ein Herz für die Besonderheiten dieser Insel hatte. Davon zeigt sich die Insel aber reichlich unbeeindruckt, sie wirft uns ein paar ihrer Highlights einfach vor die Füße.
Am Mittwoch flüchten wir vor dem grauen, windigen Wetter in den kleinen Bergort Orgosolo: Im Reiseführer habe ich etwas von Wandmalereien gelesen, aber die sind uns erstmal egal, wir steuern ein verlockend aussehendes Café an, wir haben Hunger! Und weil wir schon mal so schön trocken und warm dort sitzen, außer uns nur zwei Typen in Jogginghose, die Münzen an einen Spielautomaten verfüttern, und die tiefenentspannte Barfrau, die uns nach dem Essen einfach in Ruhe sitzen läast, packen wir das Kartenspiel aus und Linda bringt uns Durak bei. Ein kniffeliges und taktisches russisches Spiel, das sie im Winter bei einer Husky-Tour im Ural von den lokalen Guides gelernt hat. Fünf Stunden lang zocken wir analog, während die digitale Fraktion an den Automaten hinter uns tatsächlich dann und wann einen lautstark klimpernden Schwung Münzen aus den blinkenden und bimmelnden Maschinen herausholt.
Dann endlich stehlen sich ein paar Sonnenstrahlen durch die graue Wolkendecke und wir ziehen los, um die Wandkunst von Orgosolo zu begutachten. „Murales“ heißen diese manchmal melancholischen, manchmal karikaturhaften, fast immer sozialkritischen Malereien an zahllosen Hauswänden (rund 200 zählt mein Reiseführer), mit denen die Orgosolesi seit Ende der 60er Jahre nach südamerikanischem Vorbild ihrem Unmut über soziale Ungerechtigkeit und andere lokale und globale Missstände auf kunstvolle Weise Luft machen. Wie durch eine riesige Freiluft-Galerie spazieren wir an den Häusern und ihren Gemälden vorbei und mein Herz schlägt mit der „Anima Sarda“, der sardischen Seele, die offenbar einiges rebellisches Potential in sich trägt.
Die sardische Seele findet uns auch am nächsten Tag – dieses Mal in Gestalt wilder Bergschönheit. Wir klettern bei strahlendem Sonnenschein (danke, Sardinien!) auf alpinen Pfaden auf den Gipfel des Monte Corrasi, von dem aus man eine grandiose Sicht über das Supramonte-Gebirge hat: Von oben sehen wir all die Orte, an denen wir schon waren, die Schlucht von Gorropu und sogar das Meer. Der anschließende langsame Abstieg und Weg um das gesamte Massiv des Monte Corrasi herum ist wunderschön und abwechslungsreich und mein Herz fliegt ein weiteres Mal der „Anima Sarda“ zu.
Kurz vor dem Ende des Wanderwegs entdecken wir einen Spot, an den wir ohne Allrad noch gerade so hingelangen können (einmal mussten wir in den letzten Tagen schon umdrehen, weil wir dem Büsschen doch ein bisschen zu viel zugemutet hätten auf einem ausgewaschenen, schlaglochübersähten Bergpfad mit 20% Steigung, auch zum Ausgangspunkt der Monte Corrasi-Runde haben wir uns nur mit Ach und Krach hingeholpert). Wir beschließen, dort unter lichten, märchenhaft anmutenden Bäumen unser Lager für die Nacht aufzuschlagen – und es stellt sich als goldrichtige Entscheidung heraus. In der Abendsonne mit Blick ins Tal trinken wir Ichnusa (das sardische Bier, das zufälligerweise den Claim „Anima Sarda“ auf dem Etikett trägt), im Schutz einer Felswand bereiten wir uns auf einem steinernen Felsen“tisch“ ein Abendessen aus allem zu, was wir noch so haben und spielen dann im Licht unserer Camping-Laterne weiter Durak. Bis zum nächsten Vormittag – fast 15 Stunden lang – kommt hier keine Menschenseele vorbei. So einsam standen wir noch nie, so kann’s von mit aus gerne bleiben!