Wie sitzen in einer leeren Wohnung und schauen uns an. Es riecht nach frischer Farbe, nichts erinnert mehr daran, dass wir hier zwei Jahre lang gelebt, geplant, geträumt und – vor allem in den letzten Wochen – geschuftet haben. Jeden Tag ist ein anderes Möbelstück an einen Ebay-Kleinanzeigen-Käufer verschwunden. Erst die große Kommode im Flur, dann die TV-Bank. Die Esszimmerstühle, die Badmöbel, das Sofa, dann die komplette Küche und zuletzt das Bett. Und mit jedem Möbelstück ist auch ein Stück Vertrautheit verschwunden. Wir haben uns in manchen Momenten ganz schön verloren gefühlt: nicht mehr im Alten und noch nicht im Neuen. Jetzt ist alles weg.
Ein paar Stücke, an denen wir hängen, in Kisten bei meinen Eltern – nichts Wertvolles oder Wichtiges, eher sentimentale Dinge wie Kaffeebecher mit Gesicht, potthässlich aber verbunden mit vielen albernen Witzen, die ich darüber gemacht habe, als ich Nico mitsamt diesen albernen Bechern kennenlernte. Ein silbernes Kästchen von meiner Großmutter, Handtücher aus Studententagen, eine ganze Kiste mit Briefen aus 40 Jahren, Zettelchen, die mir meine damals wie heute beste Freundin Janka im Schulunterricht geschrieben hat (meine Antworten liegen in einer ähnlichen Kiste bei ihr), Bordkartenschnipsel, Museumsflyer und Eintrittskarten von vielen schönen Reisen – solche Dinge wegzugeben habe ich nicht übers Herz gebracht. Sie erzählen mir meine Geschichte, Anker aus der Vergangenheit, der Beweis für das Leben, das ich bereits gelebt habe. Nico ist da viel radikaler als ich: wenig Dinge, die er behalten möchte. Ich habe an seiner Statt Sorge, dass er irgendwann das Gefühl haben könnte, keine Belege für seine Vergangenheit mehr zu haben. Dass er sich ohne Zeugnisse seiner Geschichte entwurzelt fühlen könnte. Er sagt „Ich habe doch meine Erinnerungen. Und ich habe Dich, mit der ich sie teilen kann“. Ich muss schlucken. Und nehme mir fest vor, alle Erinnerungen für ihn aus meinem Kopf hervorzuholen und sie ihm wieder und wieder zu erzählen, sollte er sich je verloren fühlen. Ich bin anders, ich brauche handfeste Zeugen, von denen ich weiß, dass sie irgendwo auf mich warten. Mein lautes Tönen „Wir geben alles weg, wir brauchen nichts mehr, was nicht in unseren Bus passt“ aus der Zeit, als wir unseren Weltreise-Plan frisch gefasst hatten, ist der stillen Einsicht gewichen, dass das nicht funktioniert. Dafür bin ich viel zu sentimental.
Sehr viel profaner wurde es in den letzten Wochen, als ich mich an das Aussortieren meiner Kleidung gemacht habe. Das tue ich ohnehin regelmäßig – alles, was ich zwei, drei Jahre lang nicht angezogen habe, kommt weg. Ich war nie eine Fashionista, und die Zeit, die man braucht, um sich eine stylische Garderobe zusammenzustellen, habe ich immer lieber für andere Dinge verwendet. Aber nun, da ich meinen Schrank auf das Maß eines bordgepäcktauglichen Trolleys reduzieren muss (denn etwa so viel Platz hat jeder von uns in unserem Kleiderfach im Bus), verzweifle ich. Nico hat gelacht und mich aufgezogen. Auch in dieser Sache ist er viel besser als ich: Zehn T-Shirts, zwei Paar Jeans, drei Pullis, Unterwäsche, Socken, fertig. Ich habe gefühlt mehr Zeit gebraucht, um meine Kleiderauswahl zu treffen, als wir für den Ausbau des Busses benötigt haben. Mein Optimierungsdrang hat mich schier umgebracht: Ich habe versucht, jede Eventualität mit so wenig Kleidungsstücken wie möglich abzudecken, jede Wetterlage, jede Stimmungslage (das coole Hoody kann ich auf keinen Fall anziehen, wenn ich mich in romantischer Stimmung an einer windumspielten Klippe stehen sehe – dafür eignet sich ausschließlich eine zart flatternde lange Strickjacke) und jeden gesellschaftlichen Anlass (das sportliche Beach Girl braucht natürlich ein komplett anderes Outfit als das lässige City Girl, das abends irgendwo in einer Bar was trinken geht). Die Klischeemaschine in meinem Kopf wirft Instagram-Bild um Instagram-Bild auf die innere Leinwand meiner Eitelkeit– keine Chance, dass meine grundsolide und langweilige Garderobe all das irgendwie abdecken soll. Schließlich habe ich endgültige Entscheidung auf später verschoben – ich packe erstmal doppelt so viel ein wie nötig, wenn wir morgen zu Linda ziehen.
Wir sind gesegnet mit wunderbaren Freunden – zu denen auch Taria und Linda gehören, die kurzerhand beschlossen haben, für die letzten acht Wochen, die wir noch in Deutschland sind, in Tarias Wohnung zusammenzuziehen, damit Nico und ich bei Linda wohnen können. Da für mich beruflich der März immer der arbeitsreichste Monat ist, hatte ich Nico das Einverständnis abgerungen, dass wir unsere Wohnung schon Ende Januar auflösen, um kurz vor der Abreise nicht noch mehr Stress zu haben als ohnehin. Keller ausräumen, Schubladen und Schränke leeren, für alles, was wir besitzen, eine Lösung finden: verkaufen, verschenken, wenn es nicht anders geht wegwerfen – vor ein paar Tagen Sperrmüll für die großen, ollen Sachen, mit denen sich nichts anderes mehr machen lässt. Als wir da so sitzen in unserer leeren Wohnung, erschöpft von den zahllosen Entscheidungen, die wir in den letzten Wochen treffen mussten, sind wir uns einig, dass das eine gute Vorgehensweise war. Ab morgen sind wir wohnungslos. Fühlt sich irgendwie surreal an. Aber auch aufregend – wenn wir morgen die Schlüssel an unsere Vermieterin übergeben haben, sind wir unserem Reisetraum einen riesigen Schritt näher. Jetzt aber erstmal Pizza und Bier vom Lieferservice und eine alte Folge Star Trek Enterprise auf dem Laptop, um die sentimentalen Gedanken abzuschütteln.