Alpenrausch und Stellplatz-Bingo

Es ist unsere letzte Nacht auf dieser Reise – und statt sie an einem stillen, versteckten Ort in freier Natur zu genießen, stehen wir – mal wieder – auf einem Campingplatz. Und das kam so.

Nach einem Abend und einem ausgiebig im Sonnenschein vetrödelten Morgen auf einem Berg am Rande der Dolomiten mit der fantastischsten Aussicht, die man sich nur vorstellen kann sind wir gestern voller Vorfreude auf den Tag in unseren Bus gestiegen. Was ein paar Stunden Sonne und ein wenig Ruhe so alles bewirken können… Durch die Dolomiten habe ich die Route ausgesucht – von all den wunderschönen Ecken in den Alpen die vielleicht schönste mit ihren gotisch filigranen, gezackten Gipfeln und Graten, deren weiße Spitzen in den blitzblauen Himmel stechen und zusammen mit dem satten Frühlingsgrün der im reichlichen Regen üppig gewachsenen Almwiesen einen unwiderstehlichen Kontrast bilden. Ich kann kaum genug bekommen von den Blicken, die sich an jeder Windung der Straße auftun. Leider ist der Verkehr deutlich schneller geworden, seit wir Kroatien verlassen haben: Aalglatter Asphalt und gut ausgebaute Straßen bedeuten höhere Geschwindigkeiten, als wir es von den ruckeligen aber tempomäßig gemütlichen Pisten auf dem Balkan gewohnt waren – und schlechte Karten für Fotostopps. Wenn mir ein Panorama gefällt und ich „Halt“ brülle, dauert es noch mindestens 300 Meter, bis Nico den uns dicht auf der Stoßstange hängenden nachfolgenden Verkehr (wir sind immer noch langsam, obwohl wir uns bemühen, uns der Geschwindigkeit der anderen anzupassen und kein allzu großes Hindernis darzustellen) auf ein Bremsmanöver vorbereitet hat und wir wirklich stehen. Auf der Strecke hat sich dann meist schon ein Strommast, ein Haus oder ein dicker Baum ins Bild geschoben und mein fototaugliches Panorama ist im Eimer. Ich fotografiere viel durch die Windschutzscheibe – die aber nur von zweifelhafter Sauberkeit ist, die Bilder daher vom Motiv schön, von der Qualität oft unbefriedigend. Egal – im Rausch der Dolomiten mache ich Aufnahme um Aufnahme und treibe Nico damit fast in den Wahnsinn.

Wir wollen nicht so lange fahren heute, mehr genießen. Daher fangen wir recht früh mit der Stellplatzsuche an – was sich im Nachhinein als gut herausstellt. Das Val di Fassa, das wir uns nach viel Herumgegucke auf der schmalen Auswahl an Plätzen zum Freistehen bei Park4Night herausgesucht haben, begrüßt uns schon am Taleingang mit dem Hinweis, dass Wildcampen überall verboten ist. Diese Gegend, wie viele hier in der Region aber zum Beispiel auch in Kroatien, lebt vom Tourismus. Wildcamper sind nicht gern gesehen, die bringen den örtlichen Campingplatzbetreibern keinen Umsatz. Wir ignorieren das aber erstmal und schauen uns den Platz am Fluss am Rande einer schmalen Zufahrtstraße zu einem Wandergebiet an – diverse Leute haben ihn bei Park4Night bewertet, sie scheinen also nicht verjagt worden zu sein. Ein paar Meter bevor es runter an den Fluss geht, steht ein mobiles „Durchfahrt verboten“-Schild. Na toll. Wie gehen zu Fuß weiter, um die Lage zu checken. Drei Autos mit italienischen Kennzeichen fahren an uns vorbei – so ganz streng scheinen sie es hier also nicht zu nehmen mit der verbotenen Durchfahrt. Trotzdem haben wir Zweifel, ob der Platz der richtige für uns ist. Er liegt in Sichtweite eines kleinen Ausflugslokals, außerdem rauscht der Fluss so laut, dass ich meine Umgebung nicht hören kann – ein Umstand, der mir nicht gefällt, da mein persönlicher Sicherheitsradar stark über mein Gehör läuft und ich gern mitbekommen würde, wenn sich jemand oder etwas unserem Camp nähern sollte. Nach einigem Hin und Her beschließen wir, nicht an diesem Platz zu bleiben. Es ist inzwischen 17:30 Uhr. Wir schauen, welche Optionen wir noch in einigermaßen vertretbarer Entfernung haben. Das sind leider nicht viele, wie ich eigentlich schon den ganzen Tag bei meinem Studium der Karte immer wieder festgestellt hatte. Es gibt einen tollen, exklusiven Campingplatz auf der Seiser Alm, die einem einen traumhaften Blick auf den Rosengarten verspricht. Mit diesem Platz hatte ich gedanklich einige Male geliebäugelt im Laufe des Tages, mich dann aber doch für einen Platz in der Natur entschieden, da wir nur noch so wenige Reisetage haben, und ich diese nicht gerne auf einem Campingplatz verbringen wollte. Nun ist die Seiser Alm eineinhalb Stunden Fahrzeit entfernt und auch keine wirkliche Option mehr. Unsere App gerät an ihre Grenze. Nico fällt ein, dass mein Bruder uns noch eine weitere App empfohlen hatte: WoMoStellplatz.eu. Wir befragen diese. Campingplätze kosten hier in der Region um die 40 Euro, was wir gnadenlos teuer finden. Wenn schon bezahlen, dann lieber einen Stellplatz. An einem in der Nähe fahren wir vorbei, er ist zwischen eine Baustelle und ein Hallenbad eingeklemmt und soll 26 Euro die Nacht kosten. Nein danke. Wir entdecken nach einer halben Stunde Sucherei in der App eine Möglichkeit, auf einem Bauernhof eine knappe Stunde entfernt für 10 Euro die Nacht zu stehen. Das hört sich gut an, zumal dieser Bauernhof ebenfalls im Dunstkreis des Rosengartens liegt und ich mir auch hier einen Blick auf dieses berühmte Dolomitenmassiv erhoffe.

Wir fahren und fahren und fahren. Irgendwann gegen 19:30 Uhr kommen wir an dem Bauernhof an und die nette Wirtin weist uns den Weg zu einem Platz, der zu ihrem Hof gehört, und auf dem Camper stehen dürfen. Als wir dort oben ankommen, ist der Platz rappelvoll. Die Leute haben ziemlich egoistisch geparkt, so dass manche Camper sehr viel Platz haben, Freiräume für Neuankömmlinge aber kaum noch vorhanden sind. Da könnten wir genauso gut bei Aldi auf dem Parkplatz stehen. Ich will hier nicht bleiben. Uns gehen mit dem Sinken der Sonne allerdings auch die Optionen aus. Wir fahren noch einmal zurück zur Wirtin und fragen sie, ob es eine Alternative gibt, da der Platz oben schon voll ist. Sie zeigt Richtung Rückseite ihres Bauernhofes und meint, dass wir es dort einmal probieren sollten. Wir biegen um das Gehöft und stoßen auf eine junge Familie in ihrem VW-Bus. Auch hier wissen wir nicht so recht, wo wir unseren Bus abstellen sollen. Die Wirtin kommt hinter uns her und winkt uns an die Seite des Gehöfts. Hier, hinter ihrem Stall, mit Premium-Blick auf den Rosengarten, dürfen wir heute Nacht stehen. Nico feiert. Ich schimpfe immer mit ihm, weil wir oft morgens so spät los kommen, während ich lieber früh irgendwo bin, um noch möglichst viele Optionen für einen guten Platz oder eine schöne Aktivität zu haben. Heute aber hat sich herausgestellt, dass die Letzten doch manchmal die Ersten sein werden. Alle anderen Camper knubbeln sich oben auf dem Stellplatz, wir stehen ganz alleine (mit zwei Eseln, zwei Ponys und ihrem Fohlen, drei Schweinen, ein paar Ziegen und einer ganzen Schar prachtvoller Hühner) und mit Panoramablick in die Dolomiten hinter einem Stall. Im Supermarkt hatten wir Roastbeef gekauft, das Nico uns nun zu einem wahren Festmahl grillt. Wir sitzen und schmausen und trinken Wein und schauen uns den von der untergehenden Sonne beleuchteten Gebirgszug an. Besser geht’s nicht.

Auch für heute Nacht aber opfern wir meinen Wunsch, noch einmal frei zu stehen, den Umständen. Noch rund 850 Kilometer wären es nach Hause, irgendwo im Allgäu wähle ich die gedankliche Mitte und suche einen vielversprechenden Platz für eine letzte Nacht in Freiheit. Wir cruisen durch die sonnenbeschienene sonntägliche Ruhe Südtirols und schaffen es auf hübschen Nebenstrecken bis Innsbruck – und dann macht uns Google Maps unmissverständlich klar, dass heute der Rückreisetag für abertausende Deutsche nach einem langen Himmelfahrts-Wochenende ist. Ich fahre zwei Stunden lang, aber wir kommen unserem Ziel keine Minute näher, da Google wegen der vielen Staus in Deutschland immer wieder Zeit aufschlägt. Draußen ist es heiß, die Sonne strahlt – und wir hocken im Bus. Als wir am Fernpass ankommen, haben wir beide den selben Gedanken: Hier gibt es einen sehr schönen Campingplatz, auf dem wir vor zwei Jahren auf der ersten Etappe unseres Alpencross‚, den wir zusammen mit unseren Freunden Markus und Linda mit dem Mountainbike gefahren sind, mittags eine kleine Verschnaufpause eingelegt hatten. Wir fahren spontan ab, der Platz ist fast leer, weil alle anderen auf dem Rückweg nach Deutschland sind, und wir beschließen zu bleiben. Faulenzen ab drei Uhr nachmittags in der Sonne, schaukeln in der Hängematte und tun all die faulen Dinge, die in unserem Urlaub bisher viel zu kurz gekommen sind. Um die restlichen Kilometer bis Köln kümmern wir uns morgen – da müssen wir dann ja keinen Stellplatz mehr suchen!

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