Ein Ende, ein Anfang

Flughäfen kommen mir immer vor wie Orte, an denen Raum und Zeit aufgehoben sind. Man tritt durch die gläsernen Schiebetüren ins Terminal – und ist in einer anderen Welt. Nicht mehr an dem Ort, den man gerade zu verlassen im Begriff ist, noch nicht an dem Ort, an den man will. Ich habe das schon immer gemocht, dieses Gefühl, in einer großen, hellen Kapsel zu sein, in der alles möglich scheint. Alle Wege offen. Halifax Stanfield International Airport bildet da keine Ausnahme – und ich genieße die Raum- und Zeitlosigkeit dieser letzten Stunden unserer ersten viereinhalb Jahre auf Reisen. Wir sitzen auf einer der hölzernen Wartebänke vor der Sicherheitskontrolle (noch sechseinhalb Stunden bis zum Abflug: Die Abgabe unseres Fahrzeugs heute morgen im gemütlichen kleinen Containerhafen von Halifax ist so unfassbar glatt gelaufen, dass wir viel zu früh am Flughafen waren) und ich fühle mich so losgelöst wie dieser Ort. Ein friedliches Gefühl. Nicht so aufgewühlt und vom eisernen Willen angetrieben, schnellstmöglich die Vorstellungen in die Tat umzusetzen, die ich von dieser Reise hatte. Heute weiß ich, dass das mein Weg war, mit Ungewissheit umzugehen: Mir schnell eine Vorstellung vom Unbekannten zurechtbasteln und dann so lange hartnäckig daran festhalten, bis ich die Realität nicht länger ignorieren kann.

Das Gefühl, das sich hier am Flughafen in mir breit macht und auch schon in den Wochen davor, ist tatsächlich sowas wie Gelassenheit. Wer hätte es gedacht. Fragt man Menschen, die mich kennen, taucht das Wort Gelassenheit mit Sicherheit ziemlich weit unten auf der Liste der Begriffe auf, mit denen sie mich beschreiben würden. Und vielleicht ist es auch nur ein vorübergehendes Gefühl (dessen bin ich mir sogar ziemlich sicher – spätestens, wenn uns nach der Landung in Frankfurt die Deutsche Bahn im Stich lässt, werde ich umgehend zurück in die sehr ungelassene Version meiner selbst mutieren) – aber es ist doch zur Abwechslung mal ganz schön, nicht in Eile zu sein. Nicht im Kopf schon den dritten Schritt vor dem ersten zu planen, sondern in Ruhe einen nach dem anderen zu gehen. Ich finde es schön, dass wir noch kein genaues Bild von unserem Leben zurück in Deutschland haben und wünschte mir fast, dass ich diese „wunderbare Ungewissheit“(diesen Begriff habe ich neulich irgendwo gelesen und fand ihn sehr treffend) auch am Anfang unserer Reise zugelassen hätte. Aber hinterher ist man ja immer schlauer.

Gemütlich war’s, in den letzten zwei Wochen in Nova Scotia. Viel Wasser, viel Grün, etwas Steilküste, farbig angestrichene Holzhäuser, alte Leuchttürme, Möwengeschrei. Hübsch und stimmungsvoll, aber irgendwie nicht so spektakulär, wie wir es uns vorgestellt hatten. Sorry, liebe Leute, die Ihr uns von dieser Gegend vorgeschwärmt habt, uns hat’s gefallen aber nicht aus den Socken gehauen. Das habe ich jedoch als sehr wohltuend empfunden nach den ganzen Superlativen des Sommers. Als erholsamen Urlaub nach einer intensiven Reise-Zeit, den wir in mehr als einem Seafood-Restaurant genau als solchen zelebriert haben. Nordamerika in Ruhe ausklingen lassen. In dem Wissen, dass es nicht das Ende des großen Abenteuers ist. Sondern nur wie eine Seite umschlagen und am Anfang eines neuen Kapitels stehen.

Ein bisschen unwirklich hat es sich dennoch angefühlt, als wir den Bond in den letzten Tagen für die Verschiffung klar gemacht haben. Hatten wir ihn nicht gerade erst ausgebaut? Diese Schrankteile in drei Anstrichen weiß bemalt und festgeschraubt? Diese Leuchten in die Decke eingelassenen? Mit viel Ächzen und Stöhnen den Wassertank unter dem Fahrzeug befestigt? Unsere Kleidung in Boxen aus Stoff verstaut und uns vorgestellt, wie es sein wird, das Leben unterwegs? Was haben wir nicht alles geglaubt, was wir auf dieser Reise tun würden. Haufenweise Bücher lesen (ich), endlich intensiv Musik machen (Nico), regelmäßig Yoga, konsequent vegetarisch essen, immer brav unseren Müll trennen, jeden Tag Zahnseide benutzen, die Super-Minimalisten werden, maximal anspruchslos sein – und glücklich dabei. In der Rückschau habe ich wirklich nicht den leisesten Schimmer, wieso wir geglaubt haben, dass wir andere Menschen werden würden, oder diszipliniertere, oder konsequentere, bloß, weil wir den Alltag mit Job und Wohnung gegen einen Alltag auf Reisen tauschen. Vielleicht war es das Gefühl, dass alles möglich ist, wenn man sein Drumrum noch einmal komplett neu erfindet. Dass dann auch andere Wunschvorstellungen von sich selbst einfach so, als netter Nebeneffekt, aus einem heraus purzeln.

Ich weiß nicht, wie es anderen Reisenden geht, aber bei uns hat das nicht geklappt. Wir sind immer noch wir. Bemüht, das richtige zu tun, gut zu uns, unseren Mitmenschen und dem Planeten zu sein und unser Leben nicht mit Quatsch zu verplempern, sondern es mit Sinn zu füllen. Aber weit davon entfernt, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Gewissheiten haben sich als Arbeitshypothesen erwiesen und das Reisen nicht als krasse Persönlichkeitsveränderung. Ich entschuldige mich in aller Form bei allen, die ich in den Jahren vor unserem Aufbruch mit meinen Super-Theorien dazu gequält habe, wie ein gutes Leben aussieht, wie UNSER gutes Leben demnächst sicherlich aussehen wird. Es ist weder plastik- noch zuckerfrei geworden und wir auch keine unerschütterlichen Zen-Buddhisten oder täglich bergsteigenden Supersportler. Wir hatten vermutlich mehr üppige Restaurant-Mahlzeiten und Drinks an Bars als die meisten anderen, die wir unterwegs kennengelernt haben – weil wir sowas halt auch schon vor unserem Aufbruch geliebt haben. Und die Freude am Genuss nicht einfach abgelegt haben, bloß weil wir jetzt auf vier Quadratmetern wohnen.

Überhaupt. Komfort und Genuss. Super wichtig fürs Gemüt, wie wir festgestellt haben. Ein bisschen Kaltwasser-Katzenwäsche und Raviolidosen-Romantik ist nett, aber nur, wenn beizeiten auch wieder eine heiße Dusche und eine anständige Mahlzeit am Horizont auftauchen. Wir haben uns dieses Leben ja nicht zur Abhärtung ausgesucht oder weil wir so bedürfnislos wären, sondern weil die Reduktion auf alles, was in ein Fahrzeug passt, uns mobil und flexibel gemacht und uns so in die Lage versetzt hat, maximal selbstbestimmt ein bisschen was von der Welt zu erkunden. Und wenn ich auch vor der Reise bereits lauthals verkündet habe, dass ich zu alt bin, um jahrelang auf einer Isomatte zu schlafen und Tütensuppen zu essen, ist mir doch erst unterwegs so richtig klar geworden, wie wichtig ein Minimum an Komfort für mein Seelenheil ist (und wie unwichtig dagegen eine große Auswahl an Klamotten: Ich habe nicht mal die Hälfte von dem, was ich dabei hatte, regelmäßig getragen – jede Menge Shirts und Pullover im Grunde überhaupt nicht. Memo an mich für die nächste Reise: ein paar Lieblingsteile einpacken, der Rest frisst nur Stauraum).

Fun Fact: Ich habe natürlich – trotz fehlenden konkreten Plans – jede Menge Bilder davon im Kopf, wie sie denn aussehen könnte, unsere Zukunft. Und sehe unverdrossen und komplett unbeeindruckt von den Learnings, die ich soeben beschrieben habe, erneut lauter Ideal-Versionen von uns, wie wir durch unser zukünftiges Leben gleiten. Ich, weltweise mit Laptop auf der Couch, meinen perfekt erzogenen kleinen Hund neben mir, in den Arbeitspausen von meinen sicherlich reichlich hereinströmenden Textaufträgen kurz auf die Terrasse gehend und ein paar vertrocknete Blüten von meinen prächtig gedeihenden Kübelpflanzen abknipsend. Nico, in unserem Arbeits-/Gästezimmer am Rechner mit 17 Bildschirmen und fünf gigantischen Grafikkarten glücklich in seinem Nerd-Universum versunken, 120.000 Euro Jahresgehalt und 100 % Homeoffice. In den Mittagspausen knabbern wir gemeinsam Salat, abends gehen wir durch unser Viertel (falls wir in einer Stadt wohnen) oder durch den Wald (falls wir im Grünen landen) und schmieden Pläne für die nächste Reise, die nächste Workation, das nächste lange Wochenende mit dem Van an irgendeinem schönen Ort. Alle paar Abende treffen wir unsere Freunde oder laden sie zu uns ein, tauschen Abenteuergeschichten und kluge Gedanken – und so leben wir glücklich bis zur nächsten großen Schnapsidee, die unseren Alltag komplett auf den Kopf stellt.

Allen, die bis hierhin durchgehalten haben und nicht schon bei den Kübelpflanzen vor Lachen zusammengebrochen sind (ich bin in der botanischen Welt geradezu dafür gefürchtet, dass ich keine noch so anspruchslose Grünpflanze am Leben erhalten kann…) rufe ich zu: Ich weiß! Es ist nur eine Arbeitshypothese! Natürlich wird es nicht nach Plan laufen. Tut es seit Jahren nicht. Ist mir aber egal. Ich habe mich damit abgefunden, dass so manche bahnbrechende Erkenntnis, die ich im Laufe der Zeit über das Leben gewonnen zu haben glaubte, gnadenlos nicht zu Ende gedacht oder zu kurz gegriffen war. Oder inzwischen längst von noch größerer Weisheit überholt wurde. Ich bin halt keine kluge Philosophin, die in der Lage wäre, alles mit großem Abstand und auf den Schultern einer langen DenkerInnen-Tradition stehend zu betrachten und ihre Visionen weise daran auszurichten. Ich stecke bis zum Hals drin, Spielball der Wellen meines Lebens. Nur eins ist gewiss: Leben bedeutet ständige Veränderung. Und wenn ich dann hundert Mal mein Ideal-Bild von mir und unserem Leben von der Realität zurechtstutzen lassen muss, tja, dann ist das eben so.

Jetzt also. Ein Ende, ein Anfang. Ein Kreislauf.

Halifax, over and out.

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