Wir reisen zwischen den Welten. Nicht mehr im alten Entdecker-Modus, aber auch noch nicht im Neuen angekommen. Seit wir die Grenze nach Kanada überquert haben, vor uns 5.000 Kilometer Trans Canada Highway bis Halifax, haben wir jegliches touristisches Interesse verloren. Wir haben es nicht eilig, aber wir haben auch nichts mehr vor. Fünfeinhalb Wochen bis zur Verschiffung, 5.000 Kilometer, unser Geist geht in den Leerlauf. Stunde um Stunde zieht die ereignislose Landschaft an uns vorbei, östlich der Rocky Mountains wird Kanada zur grasbewachsenen Steppe. Farmhäuser rechts und links, dann wieder graugelbes Gras bis zum Horizont. Flach wie Niedersachsen von der A1 zwischen Vechta und Lohne-Dinklage aus betrachtet – und auch ungefähr so aufregend. Unter uns das endlose Band des schnurgeraden Highways, der Asphalt aufgesprungen und wellig von den harten kanadischen Wintern. Ost-Alberta, Saskatchewan, Manitoba, rumpeln unter unseren Reifen dahin. Erst 2.000 Kilometer später, ab Ontario wird der Straßenbelag besser und die Landschaft abwechslungsreicher, grüner, durchzogen von hunderten kleiner und großer Seen. Mit maximal 100 möglichen Stundenkilometern zieht sich die Strecke ins Endlose, schon nach wenigen Tagen haben wir jegliches Zeitgefühl verloren. Wir fahren selten mehr als vier oder fünf Stunden am Stück, vertrödeln dazwischen immer wieder ganze Tage auf kleinen städtischen Campingplätzen neben dem Highway. Das Sirren der Autos und das Rattern und Hupen der Canadian Pacific Railway – die Bahnstrecke verläuft über weite Teile parallel zum Trans Canada Highway – bilden den Soundtrack unserer Reise. In den ersten Tagen hängen meine Gedanken noch in den USA. Im Grand Teton Nationalpark und im Glacier Nationalpark, den beiden abschließenden Highlights unserer dreimonatigen Reise durch die Rockies. Die ich mit der selben Ehrfurcht bestaunt habe, wie alle Bergwelten davor – in denen Nico jedoch allmähliche Ermüdungserscheinungen bekundet und mit Bedauern feststellt, dass er für all die Schönheit nicht mehr wirklich empfänglich ist.
Ganz langsam wandern auch bei mir die Bergbilder in den Hinterkopf, gespeichert als leuchtende Erinnerungen, an denen ich mich in Zukunft erfreuen und wärmen werde. Wir spüren: Es ist Zeit, zum Ende zu kommen. Noch vor Kurzem habe ich den Gedanken ans Heimkehren weit von mir geschoben. Mich nicht bereit gefühlt für Deutschland, aber vor allem mich nicht bereit gefühlt, mein freies Nomaden-Dasein aufzugeben. Aber wie wir bereits auf früheren Reiseabschnitten gelernt haben: Er kann sehr plötzlich kommen, der Moment, wo es dann auch mal gut ist mit dem Herumvagabundieren. Und all seinen wunderbaren aber auch unbequemen und herausfordernden Begleiterscheinungen.
Nun hängen wir also in dieser seltsamen Zwischenwelt. Die Reise innerlich irgendwie zu Ende, ein zu Hause noch nicht in Sicht. Wie unser Leben in Deutschland nach der Ankunft aussehen wird? Wir haben nur eine verschwommene Vorstellung davon. Wünsche, klar. Aber noch keine Rahmenbedingungen. Nico wirft ausgewählte Angeln aus nach einem Job, der ihm Freude macht und ihm die Chance gibt, sich weiter zu entwickeln. Wo der sein wird? Wir wissen es noch nicht. Aber wir sind mit so leichtem Gepäck unterwegs, haben in Deutschland lediglich ein paar Kartons im Keller meiner Eltern stehen, dass wir maximal frei sind. Bei der Ortswahl ebenso wie darin, wie wir unseren Alltag zukünftig gestalten wollen. Ich als Freiberuflerin kann ohnehin von überall aus arbeiten – und wenn ich etwas in den vergangenen vier Jahren gelernt habe, dann genau das. Eine Freiheit, die ich nicht wieder hergeben möchte.
Freiheit. Da ist sie wieder, diese Sache, die mir am Anfang unserer Reise so schwer zugesetzt hat. Die plötzlich so uferlos war, dass ich nichts mit ihr anfangen konnte. Sie als beliebig empfunden habe, als totale Überforderung. Heute habe ich eine bessere Idee davon, was Freiheit für mich bedeutet. Nicht die Abwesenheit von Einschränkungen, kein dauerhafter Glückszustand. Sondern die Freiheit, eine Wahl zu haben. Mit allen Glücksgefühlen, die das bringt – aber auch mit dem Preis, den es kostet. Und: Die Freiheit, unseren eigenen Weg gehen zu dürfen. Ersteres wusste ich irgendwie schon immer, für letztere Erkenntnis habe ich verdammt lange gebraucht. Habe mich innerlich ohne nachzudenken eingeschränkt, indem ich mich daran orientiert habe, wie ANDERE reisen. Instagram und YouTube sind Vieles – Inspiration für Reiseziele, Fundgrube für Bauanleitungen und Antwortgeber auf zahllose praktische Fragen rund ums Reisen. Aber sie sind keine guten Vorbilder dafür, wie ein glückliches Reiseleben aussieht. Viel zu spät habe ich kapiert, dass wir unsere eigenen Regeln finden müssen. Habe weniger auf unsere Bedürfnisse geschaut, als darauf, wie andere es machen. Habe mit jedem Campingplatz und jeder Übernachtung in einem Airbnb gerungen, weil ich das Gefühl hatte, dann nicht mehr „richtig“ zu reisen. Als Vanlifer hat man gefälligst frei zu stehen, dafür haben wir unseren Van ja schließlich gebaut, oder?
Ich blicke voller Mitgefühl auf mein Reiseneulings-Ich zurück und denke: Mensch, Mädchen, warum hast Du es Dir so schwer gemacht? Und Deinem Mann ebenfalls, der von Natur aus viel weniger Last mit irgendwelchen Vorstellungen hat, wie etwas sein sollte – und viel besser darin ist, das zu tun, was ihm in dem Moment gut tut? Jetzt, auf dem vorerst letzten Abschnitt unserer Reise, machen wir es ohne schlechtes Gewissen so, wie es sich gerade gut anfühlt. Stehen auf Campingplätzen, weil wir auf dieser Zweck-Strecke von Alberta nach Halifax keine große Lust haben, uns um Freisteh-Plätze zu kümmern. Haben das auch bereits in den USA getan, weil es uns wichtiger war, Zeit an schönen Orten zu verbringen als sie ins Finden von geeigneten kostenfreien Übernachtungsplätzen zu investieren. Buchen uns ein Motelzimmer oder ein Airbnb, wenn uns der Bus-Koller überkommt oder die Hitze draußen zu groß wird. Lassen hunderte sehenswerter Orte links liegen, weil auch unser Tag nur 24 Stunden hat und der Platz in unserem Kopf nur für eine gewisse Anzahl an Erlebnissen reicht. Auch das ist Freiheit, habe ich gelernt. Die Freiheit, unseren eigenen Weg zu gehen. Die Wahl zu haben, ob wir etwas tun oder lassen – und diese Wahl nicht von vornherein dadurch einzuschränken, dass wir uns bemühen, es so zu machen, „wie man das halt macht“.
Rückblickend finde ich es spannend, dass wir auf der einen Seite ohne viel Federlesens eine sehr freie Entscheidung getroffen haben – nämlich unser bisheriges, von außen betrachtet eher konventionelles Lebensmodell von Vollzeit-Angestelltendasein und Wohnung in der Großstadt in ein Nomadenleben im Van zu tauschen. Dass jedoch zumindest ich dann die frei gewordene Stelle sofort durch ein ziemlich starres Bild davon ersetzt habe, wie das neue Lebensmodell auszusehen hat. Ich sage „spannend“, weil „dämlich“ gemein wäre: Ich wusste es halt nicht besser und habe noch nie vorher eine so radikale Veränderung in meinem Leben angestoßen. Ich bin vielleicht auch nicht der Freigeist, für den ich mich gern halte und habe nach Vorbildern gesucht, anstatt unser eigenes Modell zu entwickeln. Aber: Ich hatte vier Jahre Zeit zu lernen, dass wir nicht nur die Wahl zwischen Lebensmodellen haben, sondern auch innerhalb jedes Lebensmodells die Wahl, wie wir es für uns gestalten. Das erfüllt mich mit einem ebenso großen Freiheitsgefühl, wie auf den Gipfel eines Berges zu steigen und mich an der Schönheit der Welt zu erfreuen. Und es erfüllt mich mit der Zuversicht, dass wir auch das „Danach“, den neuen Abschnitt, der nun folgt, so gestalten werden, wie es für uns passt. Wir brauchen dafür keinen klaren Plan und keine perfekten Voraussetzungen, wir sind gut darin, mit dem zu arbeiten, was wir vorfinden. Auch das etwas, was uns die Reise gezeigt hat. Wenn einer in den vergangenen Jahren auf der Strecke geblieben ist, dann der Control Freak in mir. Der ist mir irgendwo in Griechenland abhanden gekommen, und ich vermisse ihn kein bisschen.
Noch 1.000 Kilometer bis Halifax. Die Reise wird da enden, wo sie eigentlich vor viereinhalb Jahren beginnen sollte. In Nova Scotia, dem atlantischen Teil Kanadas, der auf Bildern aussieht, wie ich mir Norwegen vorstelle. Knapp zwei Wochen werden wir dort noch Zeit haben – hoffentlich überkommt uns dann noch eimal ein wenig touristische Neugier, es wäre doch zu schade, ein so zauberhaftes Eckchen Welt unentdeckt zu lassen.
Meine Lieben, ich wünsche euch eine schöne Fahrt nach Halifax. Passt gut auf Euch auf und nimmt soviel Erinnerungen mit wie noch Platz im Gepäck ist. Wir freuen uns sehr auf Euch
Wir freuen uns auch auf Euch!!!