Ich erinnere mich noch genau an das Gefühl, mit dem wir Anfang Januar 2023 auf die mexikanische Grenze in Tecate zugerollt sind. Ein bisschen aufgeregt und angespannt wie immer vor einem Grenzübergang (okay, vielleicht noch ein bisschen mehr als sonst), aber voller Vorfreude auf und Vorschuss-Vertrauen in das neue Land. Freundliche Menschen, bunte Farben, faszinierende Kultur und fantastisches Essen – all das hatten uns andere Reisende, YouTube-Dokus und zahllose wunderschön bebilderte Bücher und Blogbeiträge für Mexiko versprochen. Heute, nach insgesamt sechs Monaten auf Reisen in diesem Land, können wir sagen: All das haben wir auch gefunden. Aber. Ach, Mexiko. So richtig leicht gemacht hast Du es uns dennoch nicht.
Bei allen bunten Bildern und – absolut zutreffenden – positiven Klischees über Mexiko: Das Land leidet an dem, woran die meisten Ländern leiden, in denen ein großer Teil der Bevölkerung nicht gerade in wirtschaftlichem Wohlstand und reich an Bildungschancen lebt. Und in denen Demokratie entweder gar nicht herrscht oder, wie im Falle von Mexiko, käuflich ist. Ich weiß, wie das aus dem Mund einer privilegierten Westeuropäerin klingt. Was weiß ich schon darüber, wie es wirklich ist in einem Land wie Mexiko, als Mexikanerin oder Mexikaner? Nicht viel. Aber in den sechs Monaten hier habe ich zumindest eine Idee davon bekommen.
Wir haben zauberhafte Städte und prachtvolle archäologische Anlagen gesehen – und provisorisch zusammengeschusterte Hütten am staubigen Straßenrand. Ursprüngliche Natur, traumhafte Strände – und jede Menge achtlos aus dem Autofenster geworfenen Müll. Sonnenschein im Überfluss – und außerhalb der großen Städte so gut wie nie Straßenbeleuchtung, in manchen Gegenden nicht einmal fließendes Wasser. Haben die bunte Tracht der indigenen Frauen auf den Märkten bewundert – und jedes mal einen Schreck gekriegt, wenn wir Männer mit schmuddeliger Kleidung und Machete in der Hand am Straßenrand gesehen haben. Die dort einfach ihre harte Arbeit machen – die Machete dient in Mexiko als Messer, Axt, Säge und Gartenschere zugleich –, die für unsere Augen aber stets ein wenig bedrohlich aussehen. Wir wurden beim Tanken, am Campingplatz, im Restaurant, an der Supermarktkasse unendlich oft mit einem Lächeln und einem interessierten Blick begrüßt – aber auch gelegentlich mit grimmiger Miene oder abweisendem Gesichtsausdruck. Haben das vergnügte Miteinander der Menschen beim Arbeiten beobachtet, wie sie zusammen lachen, miteinander plaudern, sich an den Armen berühren, als seien sie Familie, nicht Kollegen. Und gesehen, wie hart die Mexikaner arbeiten. Auch sonntags, auch feiertags, zwölf Stunden am Tag, in Jobs, die bei uns längst von Maschinen übernommen werden, weil sie zu anstrengend oder zu stumpfsinnig sind, um sie einem Menschen zuzumuten.
Wir haben uns bis heute nicht an die immer wieder im Straßenbild auftauchenden, bis an die Zähne bewaffneten Einheiten gewöhnt, Policía Municipal, Guardia Nacional, Policía Federal Ministerial, Fuerza Civil, Militär, halbstaatliche Security-Truppen und Typen, von denen wir uns ziemlich sicher waren, dass sie gar keine offizielle Legitimation für ihre schwere Bewaffnung hatten. Das hat unser Sicherheitsgefühl nicht erhöht – im Gegenteil: Das Thema Korruption ist in Mexiko allgegenwärtig, das sagen nicht nur „die Medien“ und der Korruptionsindex von Transparency International, auf dem Mexiko auf Platz 126 von 180 Ländern liegt. Die Gehälter gerade bei der lokalen Polizei sind mies, die Chance, an einen korrupten Beamten zu geraten, verdammt hoch. Nico und ich haben dieses Pech kein einziges Mal gehabt und dafür sind super dankbar – weil wir braven Deutschen keine Ahnung hätten, wie wir mit so einer Situation umgehen sollten. Dafür sind wir (noch?) nicht abgebrüht genug und haben nicht die Erfahrung anderer Reisender, die uns haarsträubende Geschichten aus Latein- und Südamerika erzählt haben und wie sie in zermürbenden Diskussionen um das Zahlen eines erfundenen Bußgeldes herumgekommen sind – oder auch nicht.
Und dann wären da noch die Kartelle und der ganze restliche Sumpf der organisierten Kriminalität. Nur die Hartgesottenen oder die All-Inclusive-Cancun-Urlauber blenden dieses Thema auf einer Reise nach Mexiko aus. Oder die Naiven. Ich gehörte lange zu Letzteren. Bin mit dem festen Vorsatz in dieses Land eingereist, mich nicht von den Unkenrufen derer verunsichern zu lassen, die nie hier waren, uns aber dringliche Warnungen mit auf den Weg gaben, wie gefährlich Mexiko sei. Schauergeschichten? Wir wissen, dass wir Reisenden nicht das Ziel der Kartelle sind, dass sie sich nicht die Bohne für uns interessieren. Und dass es ein mehr als unglücklicher Zufall wäre, gerieten wir versehentlich in eine der brutal geführten Auseinandersetzungen zwischen zwei rivalisierenden Gangs. Aber das Wissen darum, dass es diese Art von Macht gibt, die sich keinen Pfifferling um Recht und Gesetz schert und noch weniger um Moral, der keine staatliche Institution etwas entgegenzusetzen hat, im Gegenteil, die davon selbst oft unterwandert sind? Verdammt, ich bin eine in Abrahams Schoß aufgewachsene Bürgerliche – ich finde sowas zutiefst verstörend! Und dass das nicht bloß Räuberpistolen sind, die sich Reisende zuraunen, um ihre Fahrt durch das Land noch ein bisschen abenteuerlicher erscheinen zu lassen, dass das, im Gegenteil, fester Bestandteil des Alltags der meisten Mexikaner ist, wissen wir von Rubén. Unserem neuen mexikanischen Freund, mit dem wir zehn gemeinsame Tage bei Frans am Pazifik verbracht haben – und in dem ich endlich, endlich jemanden gefunden habe, den ich mit einer Million Fragen zu Mexiko löchern konnte. Weil er erstens fantastisch Englisch spricht und zweitens einen sehr ungeschminkten Blick auf sein Heimatland wirft. Und der uns völlig beiläufig und ohne jede Übertreibung in der Stimme Geschichten erzählt hat, bei denen sich mir die Nackenhaare sträuben. Wie können die Menschen hier mit so etwas leben? Die Armen, die keine Chance auf Verbesserung ihrer Situation haben, weil das politisch nicht gewünscht ist und weil viel zu viele Reiche davon profitieren, dass das Geld nicht in Bildungsprogramme oder Gesundheitsversorgung fließt, sondern in ihre eigenen Taschen? Der Mittelstand, der spätestens dann, wenn er sich ein eigenes Geschäft aufbauen oder ein Haus errichten will, mit der organisierten Kriminalität in Kontakt kommt – und entweder mitspielen muss oder eben kein eigenes Business und kein Eigenheim bekommt? Die Oberschicht, die Teil des Problems ist, nicht Teil einer besseren Zukunft, wie es eigentlich ihre Verantwortung wäre, weil sie die Mittel und die Macht hätten? Vielleicht bin ich immer noch naiv und bilde mir nur ein, dass es so etwas bei uns nicht gäbe. Dass der Reichtum der Welt gnadenlos ungerecht verteilt ist, ist ja wahrlich kein mexikanisches Problem. Das ist bei uns auch nicht viel anders. Aber diese institutionalisierte Ungerechtigkeit und Gier? Mich macht das fassungslos – auch wenn ich den Verdacht nicht loswerde, dass auf der Welt mehr Menschen so leben als in der mir vertrauten, vergleichsweise heilen Welt.
Wenn Reisen mit Vorurteilen aufräumt, dann offenbar auch mit den positiven. Meine romantischen Erwartungen vom eher armen, dafür aber umso bunteren und fröhlicheren Land, als das wir Mexiko vorfinden würden, haben sich in der Realität als deutlich weniger romantisch erwiesen. Und dennoch – ach, Mexiko. Du bist von großer Schönheit und Deine Menschen haben mich Demut gelehrt in der Art, wie sie arbeiten, wie sie feiern, wie sie füreinander da sind und wie sie gemeinsam aushalten, dass ihr Land so ist, wie es ist. Du fühlst Dich an wie eine unglückliche Liebe, die so glücklich sein könnte, wäre da nur nicht der grausame König in seinem Schloss, die böse Hexe, die ihren Fluch über alles breitet, der Drache, in dessen Klauen das Märchenreich ächzt.
Und auch wenn uns dieses Land ganz schön gefordert und innerlich zerrissen hat: Zum Abschluss hat es uns auch noch einmal einige seiner vielen wunderschönen Seiten offenbart. Auf dem langen Weg nach Norden hat sich die Landschaft (wenig überraschend, bei einem so riesigen Land mit fast zwei Millionen Quadratkilometern Fläche, vier Zeit- und drei Klimazonen) wieder und wieder verändert. Und die 2.500 Kilometer von der Karibik bis an die Grenze zu Texas, die wir eigentlich ganz pragmatisch so schnell hinter uns bringen wollten, wie es die schlechten Straßenverhältnisse eben zulassen, werden zu einem Roadtrip voller unerwarteter kleiner Highlights. Von der Karibik- geht es an die Golfküste und von da nordwärts durch den saftig-grünen Bundesstaat Veracruz. In Córdoba, wo wir eigentlich nur übernachten (in einem Hotel weil es keinen Campingplatz gibt), begegnen uns an der Rezeption, in dem winzigen, von Lichterketten erleuchteten Burgerlokal, in dem Café, wo wir uns am nächsten Morgen mit zuckersüßem Cappuccino Frappé versorgen, so viele liebenswürdige und herzliche Menschen, dass wir am liebsten bleiben würden. Die Sierra Gorda im Bundesstaat Querétaro – ein Tipp von Rubén – lässt mein Herz aufgehen: Endlich wieder Berge! So sehr mir die Palmen und das azurblaue Meer gefallen haben, das Wolkenmeer, auf das wir kurz nach Sonnenaufgang am Mirador Quatro Palos von oben (!) blicken, schickt Glücksgefühle durch meine Adern.
Eine zweite Nacht in der Sierra Gorda verbringen wir unter Mangobäumen an einem kristallklaren Fluss, dann landen wir in Matehuala im Bundestaat San Luis Potosí erneut in einem Hotel – das eigentlich einen eigenen Blogbeitrag verdient hätte. Im Las Palmas Midway Inn ist die Zeit in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts stehen geblieben, wir fühlen uns wie in einer Fernsehserie, die den Emmy-Award für die beste Ausstattung gewonnen hat. Der rührende Kellner mit den riesigen Händen und dem kantigen Gesicht, der uns abends im Hotelrestaurant unser Essen bringt, sieht aus wie ein Preisboxer, den man in eine königsblaue Anzugjacke gepresst hat – und erzählt uns mit Stolz in der Stimme, dass er seit 39 Jahren hier arbeitet. In meinem Kopf tippe ich die ersten Zeilen eines Romans – was für ein Ort!
Je weiter nach Norden wir reisen, desto breiter und besser werden die Straßen – wir gleiten dahin und haben zum ersten Mal das Gefühl, dass unsere vielen Mautgebühren tatsächlich in den Straßenbelag investiert wurden. Die Landschaft erinnert mich an Arizona: unendlicher Himmel, staubiger Boden, Kakteen und Joshua Trees bis zum Horizont, an dem fern die Bergketten der Sierra Madre Oriental flimmern. Und dann kommen wir in Nuevo Laredo an. Direkt an der Grenze zu den USA, siamesischer Zwilling des texanischen Laredo auf der anderen Seite des Grenzzauns. In ein großes Hotel – sicher ist sicher, so nah an der Grenze, die den Drogenhandel auf der einen und den Waffenhandel auf der anderen Seite voneinander trennt (oder richtiger: miteinander verbindet), die auf beiden Seiten viele Menschen sehr, sehr reich machen. Und Hunderttausende ins Elend stürzen. Von hier geht es morgen zurück in die USA – wir sind ein bisschen aufgeregt und angespannt wie immer vor einem Grenzübergang. Aber voller Vorfreude.
man bräuchte eigentlich für jedes Land einen Ruben für diese verflucht vielen Fragen die man sich beim vorbeiziehen der Landschaft denkt und man sich am Ende was zusammen reimt
Du sprichst mir aus der Seele – es war ein solches Geschenk, endlich mal meine vielen Fragen stellen zu können, ohne an meiner Sprachlosigkeit im Spanischen zu scheitern! Und jemandem zu begegnen, der meine Fragen auch über das Sprachliche hinaus versteht, weil ihm meine Gedanken nicht absurd und fremd erscheinen und wir uns nicht sofort in kulturelle Missverständnisse verheddern. Rubén war definitiv ein Schlüssel zu Mexiko für uns! Und darüber hinaus einfach ein guter Typ. 🙂
Du bringst es auf den Punkt. Danke dafür.
Danke für den sehr spannenden Bericht liebe Brit. Ja gut das ihr Ruben getroffen habt. Dann wünsche ich euch eine gute Ausreise aus Mexiko und kommt gut in Texas an. Daumen sind gedrückt
Ich habe Ihren Wagen heute in Kerrville gesehen. Lieder sind Sie am Ampel abgebiegen und ich konnte Sie nicht folgen um Sie zu grüßen. Herzlichen Willkommen in Texas. Glückwunsch für weitere sichere Reise
Danke für diese wunderbare Nachricht – sooo schade, dass wir keine Gelegenheit hatten, uns zu begegnen und uns zu unterhalten!! Wir freuen uns über die guten Wünsche – und fühlen uns sehr willkommen in Texas! Alles Gute auch für Sie ☺️