Etwas bewegt sich hoch oben in den Baumwipfeln. Ich kneife die Augen zusammen, um im Dämmerlicht besser sehen zu können. Da! Ein langer, schwarz behaarter Arm streckt sich nach einem Ast. Am hinteren Ende der dunklen Silhouette ein noch längerer, ebenso schwarz behaarter Schwanz, dessen Ende sich um einen anderen Ast schlingt. Ein Affe! Ich kriege eine Gänsehaut. Das erste Mal, dass ich einen Affen außerhalb eines Zoos sehe! Einen echten, lebendigen Affen! Er klettert ganz gemütlich in den Spitzen der hohen Bäume herum, die den Swimming Pool des „Maya Bell Hotels“ umgeben, in das Nico und ich vor der tropischen Hitze in ein klimatisiertes Zimmer geflüchtet sind. Ich greife nach dem Fernglas, das mein Papa mir zu Weihnachten geschenkt hat, und starre den Affen an wie eine Erscheinung. Ein Brüllaffe – der aber gerade ganz still Blätter von den Bäumen mampft. Schon seit Stunden hören wir das ferne Gebrüll seiner Kollegen aus dem Dschungel von Palenque, das der warme Wind herüberträgt. Ein fremdes Geräusch, irgendwie unwirklich, das das Gezwitscher und Gesumme des Dschungels mit einem dunklen Klangteppich unterlegt. Dschungel! Verrückt! Ich fühle mich, wie in den Abenteuer-Büchern meiner Kindheit und kann nicht glauben, dass diese Welt wirklich existiert.
Eben waren wir noch am Pazifik, dann eine Mammut-Fahrt von beinahe elf Stunden nach San Cristóbal de las Casas in den Bergen von Chiapas. Auf 2.100 Metern gelegen und dadurch angenehm kühl nach den heißen Wochen am Meer. Maya-Hauptstadt des Südens von Mexiko, Marktplatz der indigenen Völker, die aus den umliegenden Dörfern ihre Waren hierher bringen und sie an Einheimische und Touristen verkaufen. Mit ihren farbenfrohen Gewändern und ausdrucksstarken Gesichtern prägen sie das Stadtbild von San Cristóbal. Wir fühlen uns sofort wohl: Hippe Cafés, stylishe Restaurants und schicke Boutiquen für Touristen stehen hier neben Imbissbuden in Bretterverschlägen, bunt angestrichenen Wohnhäusern und unprätentiösen Geschäften des täglichen Bedarfs. Je näher man Richtung Zócalo kommt – dem Marktplatz, der das Herz jedes mexikanischen Dorfes bildet – desto höher die Dichte an amerikanischen Touristen. Aber am anderen Ende der Altstadt, wo die vielen Stufen hinauf zur Kirche der Jungfrau von Guadalupe an die spanische Treppe in Rom erinnern, spielen mexikanische Kindern Fangen, sitzen alte Männer auf den Bänken und schwatzen, bekreuzigt sich ein müde aussehender Herr mit traurigem Blick hinauf zur Jungfrau von Guadalupe, zupfen zwei junge Kerle auf ihren Gitarren.
Die Fahrt vom Pazifik nach San Cristóbal war nicht nur aufgrund der Entfernung und der vielen Kurven, die die Bundesstraße 190 auf dem Weg durch die Berge von Chiapas macht, eine Herausforderung. Rechts und links am Rand dieser Bundesstraße kommen uns über mehrere hundert Kilometer hinweg immer wieder Menschen entgegen, die mit nichts als einem kleinen Rucksack zu Fuß unterwegs sind nach Norden. Zumeist junge Männer und Frauen, allein, zu zweit, zu dritt, sauber gekleidet, die Männer ordentlich rasiert, als wären sie gerade erst aus der Haustür getreten. Mit einem Jungen an der Hand oder einem kleinen Mädchen auf den Schultern. Einem Baby im Tragetuch vor dem Bauch. Dunkle, müde Gesichter, manchmal aber auch lachend und schwatzend. Bei mehr als 30 Grad in der sengenden Sonne marschierend oder pausierend im spärlichen Schatten der Bäume am Wegesrand. Menschen, die vor den politischen und wirtschaftlichen Zuständen in ihren Heimatländern fliehen – zumeist aus Honduras, Venezuela, Haiti, El Salvador. Die so verzweifelt sind, dass sie sich zu Fuß auf den Weg in die USA machen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Rund 4.000 km sind es von der Grenze zu Guatemala, Mexiko ist nur Transitland. Die beiden mächtigsten Drogenkartelle – das Sinaloa-Kartell und das Cártel Jalisco Nueva Generación – kämpfen derzeit im mexikanisch-guatemaltekischen Grenzgebiet um die Vorherrschaft über die lukrative „Pazifik-Route“, auf der die Drogen in die USA gelangen – und greifen auch immer wieder die Flüchtenden auf ihrem Marsch an. Das Geschäft mit der Migration blüht: Taxis, Motorräder, Tuk-Tuks warten an Sammelplätzen, um den Flüchtenden ein paar Kilometer zu Fuß zu ersparen – und sich das gut bezahlen zu lassen. Auch die Kartelle wollen mitverdienen an der Not der Migranten. Wir fühlen uns erschüttert und hilflos angesichts des Stroms, der uns auf unserem Weg nach San Cristóbal entgegen kommt. Wie verzweifelt muss man sein, dass 4.000 km zu Fuß bei diesen Temperaturen und mit allen Gefahren, die der Weg birgt – sowie dem Wissen, dass die wenigsten es wirklich über die Grenze ins „Gelobte Land“ schaffen werden – als die weniger schlimme Alternative erscheinen? Während wir zu unserem eigenen Vergnügen durch die Weltgeschichte gondeln, geht es für diese Menschen um alles. Ihr Leben, ihre Würde, die Zukunft ihrer Kinder. Ich schäme mich für diesen Gedanken, aber plötzlich bin ich froh, dass wir uns gegen die Weiterreise nach Lateinamerika entschieden haben. Wie viel mehr solcher Eindrücke könnte ich aushalten, ohne vor meiner eigenen Ohnmacht davonlaufen zu wollen?
Ich flüchte mich in die Magie des Dschungels und in die uralte Kultur der Maya. Von unserem Hotel aus ist es nur ein kurzer Spaziergang zu den Maya-Ruinen von Palenque: Mehr als tausend Jahre schlummerten die Tempel und Paläste unter dem dichten Grün der tropischen Pflanzen, erst Ende des 18. Jahrhunderts fanden Einwohner des nahen Dorfes die Ruinenstätte. Auch heute sind erst etwa fünf Prozent der riesigen Anlage freigelegt, der Rest ruht weiterhin unter den wuchernden Blättern und Schlingen des Dschungels. Schon früh am Morgen streifen wir über das erwachende Gelände, um der großen Hitze des Tages zu entgehen. Staunen am Tempel der Inschriften über die gut erhaltenen Fresken, steigen in die Gruft der „Roten Königin“ hinab (die leer ist: Die Fundstücke liegen im Archäologischen Museum in Mexiko Stadt, das wir letztes Jahr besucht haben), erklimmen die steilen Stufen des Kreuztempels und lassen den Blick über die Anlage schweifen. Hören die lauten Rufe der Vögel und in der Ferne die Brüllaffen. Beobachten eine große Echse, die bewegungslos auf der Mauer neben einem Tempel in der Sonne sitzt und aussieht wie ein urzeitlicher Drache. Und fühlen uns wie in einer magischen Parallelwelt, gewoben aus Träumen, alten Steinen, der Fantasie von Kindern, leuchtenden Blüten – und sehr viel Grün. Für mich bisher das Highlight unserer Mexiko-Reise. Nur den schwarzen Affen, den haben wir leider nicht wiedergesehen, obwohl ich am nächsten Abend am Pool sehr lange auf ihn gewartet habe.