Pueblas Schönheit erreicht uns kaum. Zwei Tage lang streifen wir durch die geschichtsträchtige Stadt mit ihren fast 4.000 historisch bedeutsamen Gebäuden, die Altstadt seit 1987 UNESCO-Weltkulturerbe. Spazieren vorbei an zahllosen prachtvollen Kirchen und Plätzen, an schmucken Cafés und Fassaden. Sehen mit den Augen, wie schön die Stadt ist – fühlen es aber nicht wirklich mit dem Herzen. Nach fast elf Monaten unterwegs ist da gerade irgendwie kein Platz mehr für neue Eindrücke. Keine Kraft mehr zum Staunen. Keine Energie mehr, uns jeden Tag neu in diese fremde Kultur zu stürzen, uns radebrechend unter Menschen zu bewegen, deren Worte und Körpersprache, deren kulturelle Codes wir stets aufs Neue mühsam dechiffrieren müssen. Weil wir hier die Fremden sind. Die Ungelenken, die das neue Land erst lernen müssen wie eine neue Fertigkeit.
Je länger wir reisen, desto stärker spüren wir die Abwesenheit von Gewissheiten. Die Allgegenwart des Fremden. Wir fühlen uns angestrengt davon, dass wir nicht einfach mit Routine sowie dem blinden Beherrschen der Klaviatur sozialer Interaktion durch die Orte und Tage navigieren können. Der angeborene Heimvorteil nicht zur Verfügung steht, den wir im Alltag zuhause kaum bemerkt haben. Dessen Abwesenheit uns in Mexiko mehr Kraft kostet als zuvor in Europa, in den USA oder in Kanada. Das Andersartige, unwiderstehlich anziehend und einer der Gründe, aus denen wir auf Reisen sind, ist an manchen Tagen einfach zu viel. Wir wünschen uns Ruhe – aber Mexiko präsentiert sich uns als lautes Land. Hundegebell tagaus, tagein. Hahnengeschrei schon vor der Morgendämmerung, selbst in den Städten. Immer und überall Musik, live oder aus den Boxen von Musikanlagen in der Größe von Waschmaschinen. Der dumpfe Knall von Böllern, die zu jeder Tages- und Nachtzeit irgendwo gezündet werden, der Anlass für uns nicht erkennbar. Röhrende Autos ohne Schalldämpfer im Auspuff, knatternde Moppeds, die lauten, fröhlichen Unterhaltungen der Menschen. Geräusche eines lebhaften Landes. An manchen Tagen rauben sie uns die Ruhe und wir wünschen uns in die menschenleeren Weiten und die natürliche Stille der US-amerikanischen Nationalparks zurück.
Dass der Alltag im Bus sich deutlich aufwendiger gestaltet als zu Zeiten da wir noch in einer Wohnung gewohnt haben, wissen wir seit unserer ersten Probetour 2019 auf dem Balkan. Wir haben uns daran gewöhnt, auch die fehlende Routine wird irgendwann zur Routine. Supermarkt suchen – und dann in den Regalen jedes einzelne Produkt, da wir selten zwei Mal im selben Geschäft einkaufen. Wasserquelle suchen und unseren Wassertank füllen. Stellplatz für die Nacht suchen (seit wir das mexikanische Festland betreten haben, kommen dafür aus Sicherheitsgründen eigentlich nur noch offizielle Campingplätze infrage) und diesen noch vor der Dunkelheit erreichen, um nicht versehentlich in ein gigantisches Schlagloch auf der Straße zu fahren – Straßenbeleuchtung ist hier nicht besonders üblich. Waschsalon oder Campinglatz mit Waschmaschine suchen, Geldautomat suchen (in den USA kein Problem, in Mexiko nicht immer einfach), Tankstelle suchen, die Diesel hat. Das alles ist längst in Fleisch und Blut übergegangen – aber Kraft kostet es trotzdem.
Stärker wiegt für uns Unerfahrene, die wir bisher nie außerhalb unseres eigenen Kulturkreises gereist sind, die Anstrengung, unser Gastland zu „lesen“. Aus all den Geschichten anderer Reisender, den Warnungen des Auswärtigen Amts, dem, was wir selbst auf den Straßen, in Restaurants und Geschäften beobachten, eine tragfähige Version Mexikos für uns zu entwerfen, auf die wir unser Verhalten und unsere Interpretation der Außenwelt abstimmen können. Uns fehlt nach wie vor der Eichstrich für dieses Land – dreieinhalb Monate Mexiko sind längst nicht genug, um uns souverän zurecht zu finden. Das war in den USA und Kanada anders. Ebenfalls fremde Länder – gefühlt trotzdem vertraut. Von früheren Besuchen, weil wir jede Unterhaltung, die in unserer Hörweite stattfindet, verstehen können, weil wir uns eine Populärkultur teilen (und ganz viel andere Kultur auch). Vielleicht sind wir aber auch einfach nur schon zu lange unterwegs und unsere Reisemüdigkeit hat gar nichts mit dem Land zu tun, in dem wir uns befinden. Oder beides zusammen.
Unsere Antwort auf zu viel Ungewissheit im Außen: Wir verkrümeln uns nach innen. Hinter die hohen Mauern des Campingplatzes “El Rancho“ in der Nähe von Oaxaca. Eine grüne Oase, Treffpunkt für müde Overlander, die, wie wir, mal eine Pause brauchen. Seit einer Woche legen wir hier die Beine hoch. Keine Stadtbesichtigung bisher. Kein Mezcal-Tasting, kein Besuch bei den berühmten versteinerten Wasserfällen von Hierve del Agua oder der archäologischen Stätte von Mitla. Laut ist es hier auch (ein Hunderudel lebt auf den umgebenden Feldern und gestern Abend gab es offenbar im Nachbarörtchen eine riesige Hochzeit, die Mariachi haben bis weit nach Mitternacht aufgespielt – Feuerwerk inklusive). Und die innere Ruhe will sich trotz exzessiver Untätigkeit nicht so recht einstellen. Stattdessen – und deswegen – schieben sich Gedanken zur Routenplanung in unsere Köpfe. Wie wollen wir weiterreisen? In welchem Tempo? Durch welche Ländern und mit welchem Anspruch auf Vollständigkeit? Wie bestimmen die Jahreszeiten auf der Südhalbkugel, die Hurricane-Saison in Lateinamerika, die Regenzeiten sämtlicher Länder zwischen hier und Patagonien, Verschiffungsmöglichkeiten sowie Sicherheitsfragen unseren weiteren Weg? Zusammen mit anderen Reisenden spielen wir Ideen und Möglichkeiten durch, werfen unser Wissen zusammen, skizzieren Planungs-Varianten. Jeder unter den Prämissen seiner eigenen Wünsche, seines Zeitrahmens und Budgets. Aber es tut gut, diese Dinge laut zu denken. Zu sehen, dass es anderen Reisenden genauso geht wie uns, dass auch sie das Reisen phasenweise müde macht – und dass hier niemand den Anspruch hat, jeden sehenswerten Ort zwischen Alaska und Feuerland tatsächlich zu sehen (jemanden wie mich, dem die Kunst der Auslassung nach wie vor nicht immer leicht fällt, entlastet diese Erkenntnis ungemein von der hohen Selbsterwartung).
Wie es weitergeht? Wissen wir nicht. Wann es weitergeht? Wissen wir auch nicht. Ob es weitergeht? Ziemlich sicher! Für die nächsten zehn Tage jedoch werden wir uns um all das nicht kümmern, denn wir bekommen Besuch aus Deutschland. Von Linda. Heimat und Vertrautheit in einer Person, liebster Reise- aber auch Faulenz-Buddy, mit dem zusammen wir schon an so manchem Ort unseren eigenen kleinen Kurzzeit-Kosmos geschaffen haben – egal, wie die Welt um uns herum aussah.
Wir wünschen Euch weiterhin viel Kraft und Energie, erholt Euch gut. Freut euch auf euren Besuch Linda aus Deutschland. Bleibt gesund und munter. LG vom Niederrhein Monika und Werner
Und wieder einmal findest du Worte für Gedanken die ich zwar hatte, aber nicht weiter drüber nachdachte und jetzt macht es beim Lesen auf einmal klick.
Als ich das halbe Jahr auf Kuba lebte, war es genauso. Ich habe da auch nur an der sozio-kulturellen Oberfläche gekratzt, trotz dass ich dort in einer Familie gelebt habe. Es ist schwer da einzusteigen und alles zu verstehen.
Das stimmt. Und gerade, wenn eine gewisse Vertrautheit entstanden ist, spürt man auch umso deutlicher die Abwesenheit dessen, was einem wirklich und zutiefst vertraut ist. Ich musste als Studentin auch erst ein Jahr in den USA leben, um festzustellen, was an mir alles Deutsch ist und warum ich mich in meiner Kultur heimisch fühle, obwohl mir meine Gastkultur in vielen Belangen von der Mentalität her eigentlich näher lag.