Wir stehen in der brüllenden Sonne auf dem Hof des Autohändlers auf Kreta. Seit vier Stunden. In unserer Hand eine Checkliste mit 141 Prüfpunkten, die wir in den letzten Tagen vor der Überfahrt erstellt haben. Wenn man ein altes Auto kaufen will, dann schaut man besser sehr genau hin. Unglaublich, dass wir das damals beim Kauf von Mr. Norris alles aus dem Bauch heraus entschieden haben. Ein bisschen auf dem Fahrzeug rumgeguckt, keinen Schimmer, worauf wir bei einem alten Auto achten müssen, mit der Seelenruhe der Ahnungslosen „Ja“ gesagt. Wir haben unverschämtes Glück gehabt damals, dass Mr. Norris in einem so fantastischen Zustand war. Dieses Glück wollen wir kein zweites Mal herausfordern, deswegen haben wir uns auf die Besichtigung des großen L300 mit Allradantrieb, langem Radstand und Hochdach sehr gründlich vorbereitet. So gründlich, dass er bereits einen Namen trägt: Nico hat ihn Hagrid getauft. Denn neben Mr. Norris kommt uns sein großer Bruder tatsächlich ein bisschen wie ein Halbriese vor. Der Verkäufer, der uns am Morgen noch nicht von den Fersen gewichen ist, als wir unseren Rundgang um Hagrid beginnen, hat sich längst anderen Aufgaben gewidmet. Er hat schnell gemerkt, dass das hier kein Spontankauf wird. Ab und zu schaut er vorbei und erkundigt sich, ob er helfen kann. Lacht amüsiert, als Nico nach zwei Stunden, in denen er Karosserie und Motor von innen inspiziert hat, bei 29 Grad Außentemperatur seinen Blaumann anzieht, die Taschenlampe in die Hand nimmt und sich unter das Fahrzeug legt. Ich, die Rost- und Innenraumbeauftragte, habe meine Arbeit zu diesem Zeitpunkt bereits erledigt und protokolliere nun, was Nico mir von unter dem Fahrzeug zuruft. „Auspuffrohr abgerissen und komplett rostzerfressen. Hitzeschutzbleche ebenfalls ziemlich verrostet. Stoßdämpfer hinten rechts abgerissen, ansonsten sieht er ganz gut aus von unten, zumindest, soweit man das unter der Unterbodenschutzschicht erkennen kann.“ Hagrid ist 25 Jahre alt, wir hatten nicht erwartet, einen Neuwagen vorzufinden. An vielen Stellen macht der L300 einen ordentlichen Eindruck: wenig Rost, Spaltmaße alle in Ordnung, Motor sieht im Großen und Ganzen gut aus und klingt auch gut. Nach drei Jahren mit Mr. Norris haben wir ein recht gutes Bild davon, was man von einem L300 in diesem Alter erwarten darf. Klar, Mr. Norris ist der Klassenstreber, einen so guten Zustand werden wir nicht allzu häufig bei einem seiner Verwandten finden. Aber das ist ja auch nur eine Orientierung.
Als wir uns nach all den Stunden in der Hitze des kretischen Vormittags und einem längeren Gespräch mit dem Eigentümer des Autohandels verabschieden, schwirrt uns der Kopf. Wir kehren erst einmal in eine Taverne ein, holen Frühstück und Mittagessen in einer Mahlzeit nach und lassen alles ein bisschen sacken. Dann machen wir uns auf die Suche nach einem Campingplatz: Die Auswertung der Erkenntnisse, die wir heute Vormittag gesammelt haben, braucht unsere volle Konzentration, da wollen wir uns nicht noch zusätzlich um einen Stellplatz und die Frage, wie genau sie es hier auf Kreta mit dem Wildcampen nehmen, Gedanken machen müssen. Wir sind erst seit gestern auf der Urlaubsinsel, die Touristensaison beginnt und wir können nicht einschätzen, ob Freistehen unter diesen Vorzeichen genauso entspannt ist, wie im Winter und im Frühjahr auf dem Peloponnes. Die nächsten 24 Stunden verbringt Nico damit, unsere 160 Fotos zu sichten, unsere Aufzeichnungen zu sortieren, die gesamte Besichtigung zu dokumentieren und sich mit Freunden zu beraten, die mehr Erfahrung mit alten Autos haben als wir. Auch das Forum 4×4 Travel erweist sich als super hilfreiche Plattform, in der die alten Allrad-Hasen geduldig unsere Fragen beantworten. Wie ist der Zustand des Fahrzeugs zu bewerten? Was muss gemacht werden, um Hagrid als verlässliches Weltreisemobil nutzen zu können? Welche Mängel sind eher Schönheitsfehler, welche gravierend? Ich spiele derweil durch, was es für uns reiselogistisch bedeuten würde, sollten wir den Bus kaufen. Klar, darüber haben wir uns natürlich in den letzten Monaten, seit uns der Gedanke im Kopf herumschwirrt, ein größeres Fahrzeug auszubauen, bereits beschäftigt. Aber lasst euch gesagt sein: Es fühlt sich noch mal ganz anders an, wenn man wirklich kurz vor der Entscheidung steht. Was kommt administrativ auf uns zu, wenn wir ein Fahrzeug in Griechenland kaufen, es im Winter hier ausbauen und dann im Frühjahr nach Deutschland überführen? Wie können wir das Auto hier anmelden und versichern, obwohl wir keinen griechischen Wohnsitz haben? Was müssen wir bei unserem Heimatbesuch in Deutschland in diesem Sommer alles klären, organisieren, beschaffen, um im Herbst und Winter bei Theo in Griechenland den Bus auszubauen? Nicht nur logistische Fragen treiben mich um, auch emotionale. Wie stehen wir dazu, dass mit einem solchen Ausbauprojekt unsere Reise jetzt, wo es endlich wieder möglich ist zu reisen, erneut auf Eis liegen würde? Denn wenn wir Hagrid ausbauen, dann können wir nicht gleichzeitig durch die Weltgeschichte reisen. Wie fühlt es sich an, für ein paar Monate die langersehnte Freiheit, sich ohne Verpflichtung und Zeitdruck vom Leben treiben zu lassen, wieder einzutauschen gegen genau das: Verpflichtungen und Zeitdruck? Und einen Teil des Budgets, das wir für Abenteuer in fernen Ländern angespart haben, stattdessen in den Komfort eines größeren Fahrzeugs zu investieren?
Als wir spät abends im Dunklen der milden Nacht vor unserem Bus sitzen, sind unsere Köpfe müde. Gerade haben wir mit meinem Schwager telefoniert, der sich sein ganzes Leben lang mit alten Autos beschäftigt hat und genau weiß, wo man hingucken muss und wo es wehtut. Mit zwei Freunden den Zustand des Busses besprochen, die ebenfalls viel Erfahrung haben und wissen, was es bedeutet, ein altes Auto zu restaurieren. Die Einschätzung aller fällt unabhängig voneinander in etwa gleich aus: Das Fahrzeug ist keine Katastrophe, aber es sind schon eine ganze Menge Dinge, die gemacht werden müssen. Arbeit schreckt uns eigentlich nicht und wir hatten bereits ein gewisses Budget für Reparaturen eingeplant – wie gesagt, wir hatten nicht erwartet, einen makellosen Neuwagen vorzufinden. Ich frage Nico, für den diese Fahrzeugbesichtigung eine echte Herzensangelegenheit war, auf die er fast ein halbes Jahr lang gewartet hat, was sein Bauch sagt. Seine Antwort kommt umstandslos und überrascht mich: „Ich glaube nicht, dass dies das richtige Fahrzeug für uns ist“. Ich höre genau in mich hinein, als er das sagt – aber ich spüre kein Bedauern. Ich habe mich in den letzten Wochen wirklich angefreundet mit der Vorstellung, in einem Fahrzeug mit Stehhöhe durch die Welt zu cruisen, und innerlich schon die Ärmel hochgekrempelt für einen Ausbau, bei dem wir all die Erkenntnisse des ersten Reisejahres umsetzen können. Auch die Vorstellung, dafür drei Monate lang bei Theo in Nafplio zu sein, fand ich mächtig verlockend. Und trotzdem. Als ich Nicos Einschätzung höre, empfinde ich sie als richtig. Selbst wenn wir den unrealistisch hohen Preis von 10.000 Euro, den der Verkäufer für Hagrid haben will, auf eine angemessene Summe herunter verhandeln könnten und alle Arbeiten am Fahrzeug in der Werkstatt, in der wir bereits mit Mr. Norris waren, professionell durchführen lassen würden: Am Ende kann uns niemand garantieren, dass wir den Bus in einen Zustand versetzen können, wie wir ihn für das große Abenteuer brauchen.
Als wir heute morgen erneut vor unserem Bus sitzen, kommt Kosta, der Campingplatzbetreiber, auf ein Schwätzchen vorbei. Wieder einer dieser unfassbar netten Menschen: Als wir vorgestern vor den Toren seines Campingplatzes standen, waren diese verschlossen. Genau wie die Tore der beiden anderen Campingplätze, die wir zuvor angefahren waren. Eigentlich hat auch Kosta noch gar nicht geöffnet, er will erst alles klar machen für Campingurlaub unter Coronabedingungen. Aber er lässt uns trotzdem herein. Entschuldigt sich, dass der Pool noch nicht in Betrieb ist und das Internet schlecht. Uns egal, wir sind heilfroh, ein ruhiges Plätzchen gefunden zu haben. Ist schon ziemlich cool, den ganzen Campingplatz für uns alleine zu haben (okay, fast für uns alleine: die sechs Katzen und vier Hunde zähle ich mal nicht mit)! Als er heute morgen vorbeischaut, versucht Nico gerade, die Fahrzeugpapiere von Hagrid aus dem Griechischen zu übersetzen. Er bittet ihn bei einer Passage um Hilfe und wir kommen ins Gespräch. Kosta lacht, als er von unseren Plänen hört – und rät uns dringend davon ab, uns in die Hände der griechischen Bürokratie zu begeben. Er selbst hat schon diverse Nutzfahrzeuge gekauft, sagt er. Jedes Mal würde neu gewürfelt, wie viel Steuern man dafür zu zahlen habe, und er sei sich sicher, dass man uns ordentlich zur Kasse bitten würde. Hätten wir noch ein letztes Argument gebraucht, hier haben wir es. Dieses Fahrzeug ist nicht für uns. Wir sagen die für heute geplante Probefahrt ab – und fühlen uns auf einen Schlag federleicht. Klar, der Traum vom bequemeren Reisen ist damit erst einmal geplatzt. Hagrid wird nicht Teil unseres Abenteuers. Aber plötzlich werden auch wieder ungeahnte Kapazitäten im Kopf, im Terminkalender und im Budget frei, die wir für die nächsten Monate eigentlich schon gedanklich mit Bürokratie und Bauarbeiten gefüllt hatten. Verliebt schauen wir Mr. Norris an: „Die Konkurrenz hast Du locker ausgesessen, was? Wirst uns doch noch eine ganze Weile begleiten.“ Streichen ihm zärtlich über die zerschrammte Flanke. Mal sehen, was wir von den freigewordenen Ressourcen noch alles mit dem Kleinen anstellen können.
Outtakes
So, und jetzt, wo ihr unsere sachliche und faktenorientierte Analyse der Fahrzeugbesichtigung kennt, hier noch ein paar schräge Randnotizen, die ich aus Gründen der Ernsthaftigkeit, die das Thema für uns hat, erstmal weggelassen habe:
- Als wir auf dem Hof des Händlers ankommen, steht Hagrid schon herausgeputzt wie eine Braut in der ersten Reihe: Ordentlich Reifenlack auf allen vier Rädern und frisches Öl auf allen Kunststoffteilen, die vor Feuchtigkeit triefen. Die offenbar universalen Kniffe der Gebrauchtwagenhändler wirken bei diesem alten Schätzchen ein bisschen… nun ja… unpassend. Wenigstens haben sie auf Neuwagen-Parfum im Innenraum verzichtet.
- Als der Verkäufer den Motor von Hagrid startet, um ihn umzusetzen, damit wir ihn gründlich von allen Seiten inspizieren können, fällt vor unseren Augen der Auspuff ab.
- Als ich die Heckklappe von innen öffnen möchte, rührt sich diese kein Stück, dafür sehe ich die Sonne von außen durch die Ritzen scheinen. Als der Verkäufer versucht, die Klappe von außen zu öffnen, passiert ebenfalls nichts. Mit zwei Mann werfen sie sich gegen die völlig verzogene Klappe, die sich endlich unter Protest öffnet – und dabei aus einer ihrer beiden Aufhängungen bricht.
- Als Nico darum bittet, vor einer Probefahrt den abgerissenen Stoßdämpfer zu fixieren, schaut uns der Verkäufer verständnislos an: Er fährt den Bus doch jeden Tag, um damit sein Restaurant mit frischem Obst und Gemüse zu beliefern – der läuft doch wunderbar!
- In den Fahrzeugpapieren ist Hagrid mit einer Gesamtlänge von 2,60 m eingetragen, damit macht ihn das Dokument um ganze 2 m kürzer, als er tatsächlich ist. Ob das wohl ein Vorteil beim Verschiffen wäre?
Hallo liebe Brit und Nico,
sehr schön jetzt zu wissen, dass ihr mit so vielen guten Informationen von Freunden, eine positive Entscheidung getroffen habt.
Das wären aber noch Bauschmerzen geworden. Gut das Ihr nun mit Mr. Norris weiter das große Abenteuer genießen werdet.
LG Monika und Werner
Das war jetzt echt spannend zu lesen. Aber Mr. Norris ist wirklich in einem tollen Zustand. Und ja .. ist verdammt viel Arbeit einen Bus in einem schlechten technischen Zustand herzurichten .. ;-). Ich hoffe unsere Wege kreuzen sich mal und wir können unsere Lieblinge bewundern. Viel Glück und Spaß weiterhin.
Das hoffen wir auch!! Beiß Dich durch und dann ab auf die Reise!
Kalimera!
Tjaja, die Tücken des Gebrauchtwagenkaufs. Genauso ‚blind‘ habe ich meine letzten beiden T4 gekauft. Aber beim nächsten wird es bestimmt besser 😉 unser weißer Riese steht ja aktuell auch bei Theos Werkstatt und wird entrostet, grundiert und neu mit Upol Raptor eingekleidet.
Zu eurer Odysee mit dem L300:
Warum verpasst ihr Herrn Norris nicht einfach ein Hochdach? Also klar, wenn ich einfach schreibe, dann wird das auf keinen Fall einfach, aber ihr könntet eure gute Basis behalten und Stehhöhe gewinnen. Fehlendes Allrad wird durch gute BF goodrich All terrain ausgeglichen und summa summarum spart ihr Zeit und Geld.
Aber bestimmt habt ihr das auch schon in Betracht gezogen.
Bei Theo ist es übrigens sehr schön. Kein „zufälliger“ Kontakt endet ohne ein 3/4 stündiges Gespräch über Zeus und die Welt.
Außerdem ist es lustig die alten Artikel von eurer Zeit hier zu lesen und selbst da zu sein.
Ihr Lieben, freut uns zu hören, dass auch ihr eure Zeit bei Theo genießt. Das mit dem Hochdach haben wir tatsächlich bereits in Erwägung gezogen und auch schon Erkundigungen eingeholt. Ist natürlich, wie alles bei Fahrzeugen, die keine VW’s sind, nicht so einfach. Wir haben halt lange hin und her überlegt, ob wir es uns leisten können, den Stauraum auf dem Dach für ein Hochdach zu opfern. Aber das ist definitiv eine Variante, mit der wir uns jetzt intensiver beschäftigen werden.