Kassensturz

Vor ein paar Tagen habe ich auf den Kalender geschaut (kommt nicht mehr so oft vor wie zu Zeiten, als ich noch in einem Büro saß und auch sonst jeden Tag Termine hatte) – und festgestellt, dass wir schon seit einem haben Jahr auf Reisen sind. Ein verrückter Gedanke, auf der einen Seite habe ich das Gefühl, erst gestern losgefahren zu sein, auf der anderen Seite ist so viel passiert seit unserer Abfahrt am Morgen des 19. September, dass es locker für ein ganzes Jahr reichen würde. Was wiederum für weiteres Staunen bei mir sorgt – schließlich hängen wir gefühlt eigentlich die ganze Zeit fest und können gar nicht viel machen, wo kommen also all die Erlebnisse her, die ich mit den letzten sechs Monaten verbinde? Ich sollte langsam aufhören, mich über die Eigenarten der Zeit zu wundern…

Ein halbes Jahr. Wenn ich darüber nachdenke, wie ich in den ersten Wochen innerlich darum gekämpft habe, in diesem Reiseleben anzukommen, das doch genau das war, worauf ich drei Jahre lang hingefiebert habe, und sich trotzdem ums Verrecken nicht rund anfühlen wollte, dann möchte ich mich im Nachhinein am liebsten selbst trösten. Das Los von uns ungeduldigen Menschen ist ja, dass wir mit dem Kopf wissen, dass manche Dinge einfach ihre Zeit brauchen und sich auch nicht beschleunigen lassen. Dass wir uns genau das sagen, uns schwören, nicht mehr zu erwarten – aber innerlich doch irgendwie glauben, für uns würde das trotzdem nicht gelten, wenn wir nur vorher schon alles gut genug durchdenken und planen. Als könnten wir dem Lauf der Dinge ein Schnippchen schlagen und Naturgesetze biegen. Jetzt, in der Rückschau, komme ich mir ein bisschen albern vor, damit gehadert zu haben, dass eine so krasse Veränderung der Lebensweise nicht in einer Woche vonstatten geht. Ich war es gewohnt, neue Dinge in meinem Leben auszuhecken, zu organisieren, umzusetzen – und die liefen dann so, wie ich es mir ausgedacht hatte. Veränderungen und große Pläne haben mir nie Angst gemacht. Umzüge, Jobwechsel, Urlaubsreisen, sportliche Ziele wie einen Marathon zu laufen oder einen Alpencross mit dem Mountainbike zu fahren, all das hat mich herausgefordert, aber immer auch rasch belohnt damit, dass es sich so angefühlt hat, wie ich es erwartet hatte. Das mit der Reise war offenbar eine andere Kategorie von „Verlassen der Komfortzone“. Aber bekanntlich lernt man ja am meisten aus den Dingen, die nicht laufen wie am Schnürchen – und das halte ich mit Blick auf das vergangene halbe Jahr für alles andere als eine Floskel, mit der man sich selbst zu trösten versucht.

Also Kassensturz: Das purzelt an Erkenntnissen heraus, wenn wir die sechs Monate unterwegs auf dem Tisch vor uns ausbreiten.

1. Wir sind richtig gut im Improvisieren. Und das empfinden wir als unser mächtigstes Mittel, um diese Reise zu genießen: Wir haben gelernt, dass Pläne zwar gut und schön sind, es aber eigentlich ständig anders kommt als wir dachten. Entweder durch äußere Faktoren wie Wetter oder Corona, oder weil wir selber plötzlich andere Ideen haben und unsere Pläne dafür über den Haufen schmeißen. Wir hatten es vor der Abreise gehofft und wissen es jetzt sicher: Uns fällt in solchen Situationen immer was ein – und meistens was Gutes.

Für mich persönlich ergibt sich daraus eine zweite Erkenntnis, die mich viel mehr überrascht, als die Feststellung, dass wir gut im Improvisieren sind: Ich kann es wunderbar aushalten, dass ich hier verdammt wenig unter Kontrolle habe und an den meisten Tagen morgens nicht weiß, wo wir abends landen werden. Während Nico offenbar dazu geboren wurde, die Dinge auf sich zukommen zu lassen, sich nicht mit „Was wäre wenn“s zu stressen und unbesorgt im Hier und Jetzt zu leben, bin ich das komplette Gegenteil: Ich beziehe mein Vertrauen in die Welt aus meinem Vertrauen in gute Planung und bestmögliche Kontrolle über Ereignisse. Planung und Kontrolle sind dummerweise die ersten, die im Reisen unter Corona-Bedingungen von Bord gegangen sind – und um ehrlich zu sein genieße ich es, von dem inneren Auftrag befreit zu sein, alles im Griff zu behalten. Ich mag immer noch planen und mir Unternehmungen ausdenken. Aber ich kriege keinen Zerfall mehr, wenn dann doch nicht sofort etwas daraus wird.

2. Nico und ich gehen uns auch auf engstem Raum und in den frustrierendsten Momenten nicht auf die Nerven oder an die Gurgel. Das ist die andere Säule, auf der diese Reise ruht. Und die steht vor allem deswegen so stabil, weil Nico ein verdammter Heiliger ist und sich von meinem gelegentlichen Gemotze und Gehader nicht aus der Ruhe bringen lässt. Mich tröstet, wenn ich zickig bin, statt zurückzuzicken. Das war auch schon vor der Reise so, aber da hatten wir beide stets Ausweichmöglichkeiten. Das ist in unserem Mini-Bus und mit den ganzen Lockdown-Einschränkungen sehr viel schwieriger – und trotzdem kriegen wir es gut hin. Meistens rettet uns unser gnadenloser Hang zum Albernsein: Uns selbst und die Dinge um uns herum nicht so furchtbar ernst zu nehmen, selbst wenn sie es sind; stattdessen eine Grimasse zu ziehen oder eine Slapstick-Bemerkung zu machen, um den anderen zum Lachen zu bringen, diese Eigenschaften (mit denen wir beide bei anderen Menschen manchmal durchaus anecken, weil nicht jeder solche Clownereien in jeder Lage angemessen findet) funktionieren zwischen uns zuverlässig als Stimmungsaufheller. Wir sind glücklich und dankbar, dass wir auch nach einem halben Jahr unter dem Beziehungs-Brennglas und nahezu ohne Sozialkontakte mit niemandem lieber auf dieser Reise wären als miteinander.

3. Reisen ist nicht dasselbe wie Vanlife. In meinem Kopf habe ich diesen beiden Begriffe vor der Abreise stets synonym verwendet (ja, ich bin leider jemand, der immer Label für die vielen kleinen bis kleinlichen Schubladen in seinem Kopf braucht) und mich hat die Erkenntnis ziemlich verblüfft, dass es ein großer Unterschied ist, ob ich ein Fahrzeug ausbaue, um darin zu reisen, oder um darin zu leben. Seit Monaten reisen wir sehr wenig, sodass unser Alltag im Bus eher dem in einer Wohnung während eines Lockdowns ähnelt. Sprich: Wir verbringen viel mehr Zeit am und im Bus, als wir das eigentlich angenommen hatten. Und da stellt uns ein so kleines Fahrzeug schon vor große Herausforderungen. Sobald wir auf Reisen sind, uns täglich mit dem Fahrzeug bewegen oder außerhalb des Busses Dinge unternehmen, ist alles entspannt. Aber um ohne Reisealltag darin zu leben, wäre Mr. Norris auf Dauer zu klein.

4. Wir haben nicht annähernd so viel Zeit wie wir gedacht hätten. Der Alltag auf Reisen in einem kleinen Bus ist unglaublich zeitintensiv, jeder Handgriff doppelt so aufwändig wie zu der Zeit, als wir noch in einer Wohnung gewohnt haben. All die großen Visionen, was wir alles mit unserer massenhaft verfügbaren Zeit anstellen würden, haben sich als lächerlich unrealistisch erwiesen: Seit sechs Monaten schleppen wir eine Gitarre und eine Bücherkiste mit uns herum, aber weder kommt Nico zum Gitarrespielen und Musikschreiben, noch ich zum Lesen. Und unsere Mountainbikes fahren wir auch seit einem halben Jahr auf dem Dach spazieren ohne sie zu nutzen. Ich verstehe es manchmal ehrlich gesagt selbst nicht: Was habe ich früher alles in einen Tag hineinbekommen! In ein Wochenende oder einen Feierabend. Und heute? Wenn ich zwischen Aufstehen und Schlafengehen drei Dinge schaffe, die ich mir vorgenommen habe, komme ich mir vor wie ein Streber und bin geistig k.o. wie nach einem Zehn-Stunden-Arbeitstag. Wenn wir mal ehrlich sind bin aber vor allem ich es, die heute nur noch halb so viel „schafft“ wie früher. Nico hatte nie diesen unglücklichen Hang dazu, sich seine Tage viel zu voll zu stopfen. War meine Schlagzahl vor unser Abreise vielleicht permanent zu hoch und das hier ist jetzt „normal“? Ich weiß es nicht, aber dass ich zum Beispiel kaum innere Ruhe zum Lesen finde, gefällt mir nicht. Okay, stattdessen schreibe ich – etwas, das ich vorher nur beruflich getan habe. Ich merke, dass ich diesen Blog hier liebe und brauche, um all die neuen Eindrücke und Gedanken zu verarbeiten, die mich jeden Tag anspringen, seit wir die vertrauten Routinen verlassen haben. Vielleicht ist es normal, dass in solchen Zeiten die innere Ruhe zum Lesen fehlt? Ich werde die Bücherkiste jedenfalls noch nicht rauschmeißen aus dem Bus und Nico die Gitarre auch nicht – wir hegen stattdessen weiter die Hoffnung, dass wir irgendwann die Zeit dafür finden werden in unserem Alltag unterwegs.

5. Nicos größter Quell der Freude: Alles, was er sich technisch für unser Fahrzeug und unseren Reisealltag überlegt hat, funktioniert wie geschmiert und tut genau das, was es soll. Stromversorgung, Wasseranlage, Heizung, Internet, Kühlschrank, Beleuchtung, Kocher und diverse kleine Gimmicks wie GPS-Tracker oder Rückfahrkamera, alle machen ihren Job. Das ist eine beachtliche Leistung, denn schließlich haben wir unser neues Leben mehr oder weniger am Reißbrett geplant. Aber es ist nicht weniger als die Grundvoraussetzung dafür, dass wir durch den Tag kommen: Wie selbstverständlich und allverfügbar früher Ressourcen wie Wasser und Energie für uns waren, merken wir erst, seit sie das nicht mehr sind. Zwischen uns und kalten Füßen, warmem Bier sowie der technischen Steinzeit liegen nur ein paar Kabel und Relais – und die prüft und wartet Nico mit der angemessenen Akribie.

6. Mein größter Quell der Freude: Ich feiere seit 193 Morgen, dass ich keinerlei Zeitdruck habe und meine einzige Aufgabe nach dem Aufstehen darin besteht, in aller Ruhe meine Tasse Kaffee zu trinken. Ohne Witz, es vergeht kein Morgen, an dem ich das nicht in vollem Bewusstsein genieße.

Viele gute Erkenntnisse also, die wir aus der bisherigen Reise ziehen. Aber auch eine, die uns derzeit an manchen Tagen ein bisschen nachdenklich stimmt: Wir haben ehrlich gesagt fast vergessen, weswegen wir eigentlich losgefahren sind. Wie sich das angefühlt hat, was uns so magisch nach draußen gezogen hat. Diese leuchtenden Bilder, in denen wir uns gesehen haben: Auf dem Highway im Sonnenuntergang, am Rande des Grand Canyon, vor dem Panorama des Yosemite, im Banff oder Jasper Nationalpark, in den bunten Dörfern und grünen Hügeln Mexikos, unter dem Sternenzelt in der Atacama-Wüste. Auf Märkten, in Straßencafés, in Kneipen, auf Gipfeln, an Seeufern und Steilküsten. Unter blauem, grauem, schwarzem Himmel. All diese Bilder sind so blass geworden und die Mühe, die es uns kosten wird, dort hinzukommen, scheint uns an manchen Tagen unrealistisch groß. Zwölf Monate Pandemie und ihre Einschränkungen lähmen uns manchmal so sehr, dass uns selbst für das Wenige, was vielleicht auch jetzt gerade möglich wäre, die Energie fehlt. Selbst die zum Träumen. Aber zwei Dinge trösten uns: Erstens geht es allen anderen Menschen da draußen gerade ganz genauso und wir sind mit diesem Gefühl nicht allein. Und zweitens haben wir – habe vor allem ich – gelernt, mir nicht allzu viele Sorgen über die Zukunft zu machen, es wird schon alles gut werden. Und wenn hoffentlich bald nach und nach immer mehr Menschen geimpft sind, dann wird sich diese bleischwere Corona-Decke langsam heben, die Welt wird jeden Tag ein bisschen tiefer ein- und ausatmen, und eine kollektiv erwachende Lebenslust wird jeden anstecken, der es zulässt. Und dann wird sie schon zurückkehren, die Energie, sich ins große Abenteuer zu stürzen.

3 Kommentare

  1. „All die großen Visionen, was wir alles mit unserer massenhaft verfügbaren Zeit anstellen würden, haben sich als lächerlich unrealistisch erwiesen.“ – hach, wie oft ich bei diesem Artikel schmunzeln musste.
    Werft die Bücherkiste aber nicht weg, bevor wir uns nicht über den Weg gerollt sind. Ich habe erstaunlicher Weise Zeit zum Lesen und nage gerade am literarischen Hungertuch.

    1. Für das literarische Hungertuch kann ich EBooks empfehlen: Habe mich zwar jahrelang gegen diese irgendwie übersinnliche Variante des Lesens gewehrt, aber auf Reisen sind die tatsächlich verdammt nützlich! Und natürlich würde ich die Bücherkiste niemals rausschmeißen – da stecken auch die Reiseführer für Kanada, die USA und Mexiko drin!

  2. Wieder bin ich ganz bei dir, ja allen Menschen geht es auch so oder so.
    Wir wären gerne auf Reisen doch das große C hält uns immer noch zurück. Genießt die Zeit und bleibt gesund und munter. LG Monika und Werner

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