856 Steinstufen, grau und abgewetzt. Dann stehen wir ganz oben auf der Palamidi-Festung und werden mit einem Wahnsinns-Blick über Nafplio und die gesamte Bucht belohnt. Natürlich ist die Festung geschlossen, wie alle archäologischen Stätten in Griechenland derzeit. Bereits am Fuße der vielen Stufen hinauf zu dem steinernen Bollwerk, mit dessen Bau die Venezianer Anfang des 18. Jahrhunderts nach der Eroberung Nafplios die Kontrolle über die Stadt, ihren Hafen und den Argolischen Golf sicher stellen wollten, steht ein entsprechendes Hinweisschild – soll sich schließlich niemand vergeblich an den beschwerlichen Aufstieg machen. Uns ist es egal: Die Sonne lacht, die Luft ist 19 Grad warm und wir fühlen uns, wie wir uns seit Ewigkeiten nicht gefühlt haben – wie richtige, waschechte Touristen. Es ist herrlich! Würden wir keine Maske tragen, man könnte beinahe vergessen, dass wir eigentlich Lock-Down haben. Wir tun noch nicht mal was Verbotenes: Wenn 856 Stufen keine sportliche Betätigung sind (einer von sechs Gründen, derzeit vor die Tür zu dürfen), was dann? Wir genießen das fast normale Gefühl, in einer geschichtsträchtigen, hübsch herausgeputzten Touristen-Stadt zu sein und eine Touristen-Attraktion zu besuchen (auch wenn die Burg geschlossen ist, die Aussicht hat geöffnet, und die interessiert mich ohnehin mehr als die alten Steine).
Nach zwei Tagen in der Bucht bei Epidavros haben wir fast unser gesamtes Essen mit den beiden entzückenden kleinen Hunden geteilt – und Nico seufzt „Wie schöne wären jetzt mal wieder eine heiße Dusche und frisch gewaschenes Bettzeug.“ Kurz entschlossen buchen wir für vier Nächte ein hübsches Studio in Nafplio mit Dachterrasse und Panorama-Blick auf die Palmidi-Festung – auf die wir dann 48 Stunden lang schauen, während wir fünf Maschinen Wäsche waschen, jeden Abend Take-Out essen, nicht abwaschen, lange unter der Dusche trödeln, in einem riesigen Bett schlafen und das tun, was wir normalerweise NICHT tun würden bei einem Städtetripp: drinnen hocken. Dann, am Samstag, packt es uns schließlich, wir haben lange genug auf die Festung geschaut, jetzt wollen wir da rauf!
Als wir wieder unten sind, schlendern wir einfach der Nase nach weiter – und stehen plötzlich in malerischen kleinen Gassen voller schnuckeliger Geschäfte und geschmackvoll eingerichteter Cafès, die unverkennbar auf kauf- und kaffeelustige Touristen zielen. Blumen an den Fenstern, schmucke Balkone, kleine Orangenbäumchen vor den Türen, dekorative Holzschilder über den Eingängen. Das meiste geschlossen, aber allein der Anblick der Gassen verstärkt unser Touristen-Gefühl auf wunderbare Weise. Wenn da jetzt noch fröhliches Treiben wäre, das ich vom Stuhl eines Straßencafés aus beobachten könnte, während ich an einer Copita nippe – alles wäre perfekt. Aber wir sind auch so im Reiseglück. Kaufen uns ein Eis, spazieren weiter zum Hafen, wo Möwen in der stürmischen Brise über dem Wasser hängen, sich plötzlich pfeilschnell in die Wellen stürzen und mit einem silbrig schimmernden kleinen Fisch im Schnabel wieder auftauchen. Schauen auf die Uhr – und drehen doch lieber um, nach Hause in unser Apartement. Unser Permit ist schon fast zwei Stunden alt und wir wollen es nicht darauf ankommen lassen, in einer möglichen Kontrolle erklären zu müssen, warum wir hier so gemütlich herumschlendern anstatt zügig zu erledigen, was es zu erledigen gibt, um möglichst schnell wieder von der Straße zu sein.
Häufiger habe ich mich in den Wochen, seit wir wieder im Bus wohnen, gefragt, ob das, was wir gerade tun, in Ordnung ist. Nicht, weil ich es für ein tatsächliches Risiko halten würde, uns mit Corona zu infizieren oder jemanden damit anzustecken. So abseits und kontaktlos wie hier könnten und würden wir in Köln wohl kaum leben. Auch sind die Infektionszahlen mit Ausnahme von Athen und Thessaloniki in Griechenland so niedrig wie in kaum einem anderen Land in Europa. Aber die moralische Frage beschäftigt mich. Ist es okay, zu reisen – wenn auch abseits und so langsam, dass es sich eigentlich kaum wie Reisen anfühlt -, wenn alle Welt zuhause bleiben soll und vor allem bei uns daheim in Deutschland gerade niemand das Privileg hat, dem Lock-Down zu entfliehen und den Lagerkoller abzuschütteln? Machen wir es uns zu leicht, indem wir das tun, was möglich ist, anstatt das, was vielleicht solidarischer wäre? Geben wir ein schlechtes Beispiel? Ist es unangemessen, hier in unserem Blog oder bei Instagram Bilder und Geschichten von schöne Orten zu teilen, während die meisten Menschen gerade aus Überzeugung aber auch mangels Möglichkeiten auf Reisen verzichten? Andererseits: Für uns ist dies hier kein Urlaub, keine Vergnügungsreise, sondern ein Lebensmodell, für das wie drei Jahre lang gespart, geplant, gearbeitet haben – und für das wir unser bisheriges Leben aufgegeben haben. Wohin sollten wir zurück? Der Bus ist unser Zuhause, unser Homeoffice; der Ort, an dem er steht, fast zwangsläufig ein wechselnder. Ich für mich selbst habe nicht das Gefühl, dass wir etwas tun, etwas riskieren, womit wir uns oder andere gefährden. Wir halten uns nicht zu 100% an die Regeln in Griechenland, wenn wir die Region wechseln. Aber wir versuchen, uns zu 100% so zu verhalten, dass wir den Sinn und Zweck dieser Regeln achten und mittragen. Und doch frage ich mich manchmal, wie andere das wahrnehmen.
Es ist dunkel geworden, unter uns glitzern die Lichter der kleinen Nachbarorte von Argos. Unser Bus steht auf der Rückseite des Wahrzeichens der Stadt, der Burg Larisa, etwas unterhalb einer Klosteranlage versteckt in den Hügeln. Eigentlich wollten wir heute morgen von Nafplio aus nur kurz ins etwa 15 Minuten entfernte Argos, um Lebensmittel einzukaufen: Aus irgendwelchen Gründen, die uns verborgen geblieben sind, hatten alle Supermärkte in Nafplio, die wir angesteuert haben, geschlossen. Als wir den Einkauf endlich erledigt haben, sind wir genervt und hungrig und haben plötzlich keine Energie mehr, die knappe Stunde nach Epidavros in die Bucht von letzter Woche zu fahren – obwohl wir extra Hundefutter eingekauft haben, um die beiden Hunde dort für ein paar Tage nach Strich und Faden zu verwöhnen. Also tuckern wir stattdessen kurzentschlossen Richtung Burg und suchen uns dort in der Pampa einen Stellplatz – der uns so gut gefällt, dass wir heute Nacht hierbleiben.
Liebe Brit,
es ist toll, dass Du Dir so viele Gedanken machst und das Thema Lockdown von allen Seiten betrachtest.
Solange Ihr weder Euch noch andere gefährdet, genießt bloß in vollen Zügen, was es zu genießen und zu erleben gibt.
Denn ansonsten könnten wir daheim ja nicht Deinen wunderbaren Berichten und Fotos folgen und ein Stück griechisches Flair mit empfinden!
In mir wecken die Berichte weder Neid, noch das Gefühl, eingesperrt zu sein. Ich bin gerne, wo ich gerade bin und gönne Euch von ganzem Herzen eine gute und unvergessliche Zeit.
Liebe Grüße,
Astrid
Ach, Du Liebe! Danke für die ermutigenden Worte
Ich freu mich über Eure Beiträge und es weckt die Reiselust in mir. So schöne Orte und Bilder .. da würde man am liebsten gleich los. Ich bin voll Deiner Meinung, Ihr macht keinen Urlaub. Urlaub würde sich – zumindest für mich – in diesen Zeiten seltsam anfühlen.
Ich bau gerade mit Kartons das Innenleben unseren Bus auf und schick mal ein paar Bilder wenn der Modellaufbau fertig ist. Bis dahin noch eine schöne Zeit und danke für Eure tollen Berichte (und tipps die ich gut gebrauchen kann).
LG bob
Ja, bitte unbedingt Bilder schicken – wir feiern jeden L300, der als Reisemobil über diesen Planeten rollt! Und sind natürlich neugierig, wie du den Kleinen innen aufteilst 🙂
Danke für das nette Feedback, wir sind dankbar für jeden Tag in diesem unglaublich schönen Land!
HI, ich denke nicht, dass es einen Grund für euch gibt, sich (moralisch begründete) Vorwürfe zu machen. Ihr haltet euch (weitestgehend) an die Regeln und verhaltet euch zudem vernünftig, was das Infektionsrisiko für euch und / oder andere angeht. Ich finde es eher schwierig einen Maßstab anzulegen, der anders begründet ist, eher einem Bauchgefühl entspringt. Ich finde, ihr macht alles richtig und dabei wünsche ich euch weiterhin Freude und viel Glück!
VG, Jörg