Ich bin aufgeregt. Wir fahren in die große Stadt! Nach fast zwei Wochen in unserer einsamen Bucht, fast drei Monaten Lock-Down und geschlossenen Geschäften und fast einem halben Jahr, seit ich das letzte Mal durch eine Fußgängerzone mit geöffneten Läden flaniert bin, wollen wir heute nach Tripoli. Wir brauchen ein paar Dinge, die wir im Supermarkt nicht bekommen und haben Lust auf einen neuen Standort, also lautet der Plan, beides miteinander zu verbinden. Erst die knapp eineinhalb Stunden ins Landesinnere nach Tripoli, eine 55.000-Einwohner-Stadt im Herzen Arkadiens, die – wie irgendwie alles in Griechenland – von Bergen umgeben ziemlich in der Mitte des Peleponnes liegt, dann wieder zurück an die Küste, dieses Mal nach Epidavros ganz im Osten am Saronnischen Golf. Ein Reisender, der vor ein paar Tagen an unserer Bucht vorbeikam, hat uns einen Stellplatz dort empfohlen, an dem er selbst gerade zwei Monate lang gestanden hat. Klingt vielversprechend, außerdem sprach er von „zwei süßen kleinen Hunden“, mit denen er sich dort angefreundet hat. Mehr Argumente brauche ich nicht, um den Platz anfahren zu wollen. Aber erst Tripoli.
Als wir dort gegen 14.00 Uhr im Zentrum aussteigen, bin ich komplett überfordert. Überall Autos, Leute, ein kalter garstiger Wind (unsere Bucht hatten wir bei strahlendem Sonnenschein und 18 Grad verlassen – siehe Foto oben). Und ich finde trotz Google Maps nicht die richtige Richtung, in der ich mir ein paar Läden markiert hatte, in denen wir hoffentlich eine Picknickdecke (um draußen ein Lager aufschlagen zu können, ohne gleich Tisch und Stühle rausholen zu müssen) und eine neue Jeans für Nico (seine ist nach vier Monaten Dauereinsatz durch) finden. Gereizt und orientierungslos stapfen wir durchs Zentrum – und als wir endlich sowas ähnliches wie eine Fußgängerzone finden, schließen die Läden vor unserer Nase – wieder einmal haben wir die Siesta vergessen. Seufzend beschließen wir, dass wir eigentlich gar nichts brauchen und schlendern in die grobe Richtung zurück, in der wir unseren Bus vermuten. Kommen an einem geöffneten Geschäft vorbei, das aussieht wie Karstadt in Mini: Vorne am Eingang duftet die Kosmetikabteilung, daneben glitzert Modeschmuck in Vitrinen, auf der Empore sehen wir Koffer, Damenwäsche und Socken. Da sind garantiert auch die Regale mit den Picknickdecken. Hoffnungsvoll steigen wir in den ersten Stock – Fehlanzeige. Aber 20% auf kuschelige Thermo-Merino- und Bambus-Socken: Glücklich tragen wir drei Paar zur Kasse und haben das Gefühl, unser Ausflug nach Tripoli war nicht völlig für die Katz.
Ein Fahrradgeschäft, ein Baumarkt und drei Supermärkte (aber keine Picknickdecke) später ist es halb sieben Uhr abends und zappenduster und wir haben noch kein Trinkwasser an Bord. An einer Tanke hilft mir der nette Tankwart, unseren 10-Liter-Wassersack zu füllen, das reicht erstmal bis morgen. Zum Glück hatten wir uns schon am Vorabend auf der Karte einen Stellplatz für die Nacht etwas außerhalb von Tripoli gesucht und darauf spekuliert, dass der für eine bloße Übernachtung schon passen wird, selbst wenn er vielleicht kein Traumplatz sein sollte. Im Dunklen fahren wir aus der Stadt heraus, die spärlich beleuchtete Straße entlang durch ein trostloses Industriegebiet, bis die Straßenbeleuchtung schließlich ganz aufhört. Dann einen unbefestigten Weg hinauf, an dessen Ende eine Kapelle mit tollem Blick über Tripoli liegen soll (wir stehen gern auf Hügeln neben Kapellen, das ist Euch vermutlich nicht entgangen). Auf dem Weg liegen riesige Haufen, Nico witzelt „Pferdescheiße“, ich übertrumpfe ihn mit „Maulwürfe“. Bis im Licht unserer Autoscheinwerfer ein cremefarbenes Pferd in aller Seelenruhe den Weg überquert und sich zu den beiden anderen auf der gegenüberliegenden Seite gesellt. Mir fällt die Kinnlade runter.
Dann stehen wir vor einem verschlossenen Tor. Die Kapelle des Heiligen Christopherus, Schutzpatron der Reisenden, liegt dahinter. Aber davor ist es auch schön und eben und mit Rundum-Blick in die umliegenden Berge, die der Fast-Vollmond netterweise für uns beleuchtet. Es ist kalt hier oben auf fast 1.000 Metern, und es geht ein ordentlicher Wind, aber wir wollen sowieso nur noch drinnen gemütlich etwas aus unserer prall gefüllten Speisekammer essen (wie gesagt, drei Supermärkte…) und ein bisschen kniffeln. Der Ausflug in die Stadt hat uns beide ganz schön angestrengt, nix mehr gewohnt!
Als ich heute morgen die Heckklappe aufmache, grasen in Blickweite vier wilde Pferde. Also doch nicht geträumt gestern. Ich bin entzückt. Liege eine halbe Stunde lang im Schlafsack, der Wind pfeift munter in den Bus, und ich beobachte, wie sich die Pferde ihren Weg durch die Büsche und niedrigen Bäume mampfen. Immer mit der Nase am Boden, bis zwei Zoff miteinander kriegen. Ein paar mal scharf gewiehert und ausgekeilt, dann wird weiter gefressen.
Wir trinken Kaffee und beschließen, noch einen letzten Versuch in Sachen Picknickdecke zu unternehmen. Steuern einen Laden mit Haushaltskram, Schreibwaren und Kinderspielzeug an. Das selbe Bild wie gestern in mehreren Läden: Kuscheldecken, Bettdecken, Plaids, Überwürfe, Tischdecken und noch mehr Kuscheldecken – aber keine Picknickdecken. Die Griechen picknicken offenbar entweder gar nicht oder nur stilvoll mit Stuhl. Die Verkäuferin wirft die Stirn in Falten und grübelt. Schickt eine Mitarbeiterin ins Lager, um zu schauen, ob dort in einem Picknickkorb, den sie im Sortiment haben, eine Picknickdecke steckt. Leider nicht. Bittet den Kollegen an der Kasse, am Computer zu schauen, welches Geschäft in Tripoli sowas haben könnte. Der recherchiert, telefoniert, schüttelt den Kopf, tippt noch mehr im Computer. Zeigt mir schließlich bei Google Maps im Street View ein Gebäude, das für mich aussieht wie eine Lagerhalle, von dem er aber sagt, das sei ein Laden für Campingbedarf. Wir sind baff. Die Leute reißen sich ein Bein aus für unseren alles andere als lebensnotwendigen Wunsch nach einer Picknickdecke, obwohl sie selber gar nichts davon haben. Wir kaufen stattdessen fünf Würfel: Endlich die fehlende Ausrüstung für Dreier-Kniffel!
Dann fahren wir den empfohlenen Laden an, der auch in echt aussieht wie eine Lagerhalle. Der Besitzer, ein alter Mann mit einem runden Gesicht voller feiner Linien, schwarzer Basecap und verschmitztem Grinsen, kommt uns schon auf dem Parkplatz entgegen, schüttelt aber bedauernd den Kopf, als er unseren Wunsch hört. Wir schlüpfen trotzdem kurz nach Innen, zwei andere Männer sitzen an einem klapprigen Tisch und rauchen, der Lagerhallen-Charme ist hier offenbar ein konsequent durchgezogenes Stilelement. Wir – Globetrotter-Flagshipstore-verwöhnt – lassen unseren Blick über das spärliche und leicht staubige Sortiment gleiten („Ist das Deko oder soll das verkauft werden?“), das Hauptgeschäft des Mannes besteht offenbar aus dem Verkauf von Gasflaschen, die die gesamte Außenfläche seines Shops füllen. Trotzdem zerbricht er sich mit uns zusammen den Kopf, wo zur Hölle man eine Picknickdecke herbekommen könnte. Empfiehlt uns schließlich das etwa eine Stunde entfernte Nafplio, das mehr auf Touristen eingestellt sei als Tripoli. Wir sind erneut gerührt von so viel Unterstützungswillen, obwohl er selbst mit uns gar kein Geschäft machen kann. Wir haben ohnehin darüber nachgedacht, uns nächste Woche für ein paar Tage eine Unterkunft in Nafplio zu suchen und mal in Ruhe Wäsche zu waschen, wir vertagen das Picknickdecken-Thema daher und machen uns auf den Weg nach Epidavros.
Hier stehen wir jetzt am wilden, felsigen, von Hügeln und Bäumen umgebenen Polemarcha Beach, zu dem wir uns über eine drei Kilometer lange Ruckelpiste durchgeschlagen haben. Draußen weht immer noch ein scharfer Wind, das Meer kracht an den kieseligen kurzen Strand, der Regen klopft auf unser Busdach, morgen soll es lausig kalt werden. Aber ich bin im Himmel: Die beiden versprochenen kleinen Hunde wohnen tatsächlich hier, und sie sind zuckersüß! Scheu und bellend zu Anfang, aber hungrig: Endlich Wesen, die sich von mir mit Futter bestechen lassen (bei den hochnäsigen Katzen von Kalamata bin ich ja immer abgeblitzt)! Ich bereue, dass wir in keinem der drei Supermärkte an Hundefutter gedacht haben und daher nur die Leckerli anzubieten, die ich mal gekauft habe, um beim Wandern ein gutes Argument gegenüber wilden Hunden oder – noch unangenehmer bei einer Begegnung – Hütehunden zu haben. Ich verfüttere die halbe Tüte an die beiden Süßen und teile noch ein paar frittierte Zucchini-Bällchen mit ihnen (eigentlich Beilage meines eigenen Abendessens), dann flüchten wir vor dem Wetter nach drinnen – die Erkundung unserer neuen Umgebung muss bis morgen warten.