Tag 17 des Lock-Downs. Wir sitzen immer noch in unserer Wohnung in Kalamata, die Sonne scheint immer noch fast jeden Tag aus einem wolkenlosen Himmel, lediglich das Zeitfenster, in dem wir sie auf unserer Terrasse genießen können, ist mit dem voranschreitenden November kürzer geworden. Die Jungs von gegenüber spielen immer noch jeden Tag Fußball auf der Straße, die alte Lady, deren Garten an unsere Terrasse grenzt, füttert jeden Abend kurz vor der Dämmerung ihre sechs Hühner, von denen fünf völlig normale, sozialverträgliche Exemplare sind, das sechste ein hochgradig neurotisches Vieh, das den ganzen Tag über erbärmliche Klagegeräusche von sich gibt und uns nicht selten schon morgens damit aus dem Schlaf reißt (ja, auch eine ganze Anzahl von Hähnchen-Rezepten haben wir schon ersonnen, falls – militante Tierschützer, bitte den Rest des Satzes überspringen – einer von uns beiden demnächst die Fassung verliert und das dumme Ding einfach um die Ecke bringt). Wir erkennen inzwischen alle Katzen des Viertels am Gang, mein Liebling ist „Robo-Cat“, eine bildhübsche, dreifarbige Katze, die sich nur ruckartig wie ein kleiner Roboter bewegt (eine Nervenstörung?) und außerdem stocktaub ist, was sie aber nicht davon abhält, vergnügt durch den Garten der alten Lady zu eiern und dann und wann nach einem Schmetterling zu haschen. Leider habe ich keine Chance, sie mit Essen dazu zu bewegen, mir beim Schreiben auf der Terrasse Gesellschaft zu leisten: Sie hört meine Lockrufe einfach nicht, und wenn ich direkt auf sie zugehe, erschrickt sie und torkelt davon. Nach 17 Tagen kennen wir das Sortiment des Supermarkts rauf und runter, wissen, bei welchem Bäcker wir den besten Cappuccino bekommen, wo gutes Brot und wo anständiges Take-out. Die Tage fließen ineinander, eine gleichförmige Wiederkehr aus Morgenkaffee, ein paar Stunden Arbeit, einer gelegentlichen Laufrunde entlang der Bucht von Kalamata, ein bisschen Yoga gegen den vom Sitzen auf Gartenstühlen und Bett verbogenen Rücken, abends kocht Nico uns was Leckeres und wir lesen oder schauen Netflix. Ein paar Mal haben wir uns mit Freunden auf ein Glas Wein oder zum Samstagsfrühstück per Videochat verabredet: Auch für sie in Deutschland gerade die einzige Möglichkeit, sich in größerer Runde zu treffen – und für uns die Stunden, in denen wir vergessen, dass wir weit weg und ziemlich ausgebremst sind. Wir sind nicht unglücklich mit unserem Lock-Down-Leben.
Ein paar Tage lang haben wir mit rauchenden Köpfen über den Plänen für unsere Verbesserungen im Bus gesessen und das Internet nach Bezugsquellen durchforstet, jetzt ist eine lange Liste von Dingen für das „Projekt Gemütlichkeit“ bestellt, die Schneiderin mit der Fertigung unserer Matratzenbezüge beauftragt, die Therme für Warmwasser im Bus geordert – die allerdings frühestens Mitte Januar geliefert wird. Der Rest sollte bis Ende nächster Woche bei Markus und Simone in Köln eintrudeln – für uns bleibt bis dahin die Frage zu klären, wohin wir die große Sendung aus Deutschland dann schicken lassen, ergo: Wo wir im Dezember sein werden. Dass der Lock-Down in Griechenland wie zunächst geplant mit dem 1. Dezember endet, glaubt hier niemand. Im Internet lesen wir, dass die griechische Regierung sich Ende der Woche etwas konkreter dazu äußern will, schon jetzt sickert aber durch, dass die Restaurants und der Einzelhandel vermutlich nicht einmal für das Weihnachtsgeschäft wieder geöffnet werden. Und dass auch die Reisefreiheit zwischen den Regionen nicht so bald aufgehoben wird.
Für uns bedeutet das, dass eine Rückkehr in den Bus derzeit sehr unwahrscheinlich ist. Wenn wir nicht reisen dürfen, macht es für uns einfach keinen Sinn, die Tage auf drei Quadratmetern auszusitzen, egal, wie gut das Wetter ist. Also müssen wir uns entscheiden, ob wir weiterhin in der Wohnung in Kalamata bleiben, oder ob wir uns nach etwas anderem umschauen. Wir tendieren zum Standortwechsel – aus zwei Gründen: Zum einen können wir uns dann zumindest für einen Moment der Illusion von Reise hingeben und sehen noch mal etwas anderes, zum anderen bekommen wir hier mit jedem Tag, an dem die Sonne ihre Bahn etwas tiefer am Himmel zieht, weniger Licht und Wärme auf der Terrasse – und in der Wohnung ist es dunkel und kühl. Für die heißen griechischen Sommer genau richtig, für die kalte Jahreszeit eher nicht – kein Ort, an dem wir Weihnachten und Silvester verbringen möchten. Und dass der Lock-Down noch so lange dauern wird, davon müssen wir mehr oder weniger ausgehen.
Wie weit können wir die Regeln, die hier derzeit gelten, ausreizen und wer will das überhaupt kontrollieren? Vor ein paar Tagen haben wir es drauf ankommen lassen und sind mit dem Bus etwa 20 Kilometer weiter südlich die Bucht entlang nach Avia gefahren und von dort etwa zwei Stunden lang durch die Olivenhaine gewandert. Was für ein Genuss, nach so vielen Tagen auf immer gleichen Pfaden mal rauszukommen und etwas anderes zu sehen! Im Sonnenschein über steinige Wege und gelben Sand unter Olivenbäumen entlang zu spazieren, den Blick über die sanften Hügel bis zum blauen Meer wandern zu lassen, keine Geräusche außer ein bisschen Vogelgezwitscher und dem Gebell einiger Hütehunde, die auf ihre Ziegen achtgeben. Wir haben jeden Augenblick genossen – und uns anschließend mit einem Bier und einem Sandwich an den Rand des Hafenbeckens von Kalamata gesetzt und den Tag ausklingen lassen.
Ob wir das alles durften? Keine Ahnung. Wir haben die übliche SMS mit der Zahl 6 für „sportliche Betätigung“ geschickt, aber ob es eine zeitliche oder räumliche Begrenzung für diese Betätigung gibt, wissen wir nicht und konnten noch nirgendwo eine Info dazu finden. Allerdings habe wir bisher auch noch nie jemanden gesehen, der die Zertifikate der Leute, die draußen herumlaufen, überprüft hätte. Überhaupt scheint Kalamata polizei- oder ordnungsamtsfreie Zone zu sein, der einzige Uniformierte, der uns bisher begegnet ist, war ein Polizist, der sich in einer Bäckerei einen Kaffee geholt hat. Wir spielen also ernsthaft mit dem Gedanken, trotz Verbots die Region Messenien, in der Kalamata liegt, zu verlassen: Ich habe mich in die Idee verliebt, den Dezember in einem Cottage in den Bergen zu verbringen, und Nico damit angesteckt – wenn schon Winter, dann auch richtig! Die Unterkunft, die wir im Auge haben, hat einen Kaminofen und eine Badewanne und liegt in der Region Argolis auf einem großen Grundstück in der Mitte von Nirgendwo mit Panoramablick in die umliegenden Berge – genug Platz, um der Sonne (wenn sie scheint) ums Haus herum zu folgen, ungestört an unserem Bus zu werkeln und es uns abends im Warmen gemütlich zu machen. Und die Vorstellung, Weihnachten weit weg von meiner Familie zu verbringen, fällt mir ebenfalls leichter, wenn ich weiß, dass ich Heiligabend nicht fröstelnd auf dem Bett einer sofalosen Wohnung hocken muss, sondern wir es uns am Feuer in einem richtigen Wohnzimmer gemütlich machen können. Es kommt uns unwahrscheinlich vor, dass sie auf allen Straßen, die Regionsgrenzen überqueren, Kontrollen oder Straßensperren eingerichtet haben – sprich: dass hier irgendjemand systematisch überprüft, ob die Menschen sich an das Verbot halten, ihre Region zu verlassen. Vielleicht steigen wir in den nächsten Tagen mal in den Bus und fahren zur „Grenze“ zwischen Messenien und dem benachbarten Lakonien, die nicht weit von hier verläuft, um uns vor Ort ein Bild zu machen. Mein Unrechtsbewusstsein würde sich jedenfalls stark in Grenzen halten: Mehr in Isolation können wir uns ja eigentlich kaum begeben, als auf Nebenstraßen in eine einsame Hütte in den Bergen zu fahren – auch wenn wir dafür mal kurz eine Regel brechen müssen.