Wir sind verliebt! Seit wir am Montagabend griechischen Boden betreten haben, sind alle Gefühle von Fremdheit und Verlorenheit verflogen. Haben wir Sardinien oft wie durch eine Glasscheibe hindurch wahrgenommen, fühlen wir uns bei der Ankunft am Hafen von Igoumenitsa sofort mitten drin. Und das, obwohl es fast neun Uhr abends ist, wir drei lange Reisetage in den Knochen haben und für die Nacht wenig idyllisch auf einem, großen, hell erleuchteten Parkplatz direkt neben der Promeniermeile am Hafen stehen. Hier haben wir schon im letzten Jahr eine Nacht verbracht, als wir auf unserer Balkanreise wegen des miesen Wetters spontan einen Abstecher nach Griechenland gemacht haben. Vielleicht ist das der Grund, weswegen wir uns direkt heimisch fühlen? Oder liegt es daran, dass hier vor den Cafés und Kneipen am Hafen Leben herrscht? Draußen sitzen Menschen zusammen, trinken etwas, reden und lachen. Keine großen Mengen von Menschen, auch in Griechenland ist Corona natürlich ein Thema. Aber die Szenerie wirkt lebendig und entspannt.
Griechenland ist bisher vergleichsweise gut durch die gesamte Corona-Pandemie gekommen. Auch hier hat man im Frühjahr mit einem massiven Lockdown reagiert und das Leben der Menschen für einige Wochen stark eingeschränkt. Offenbar mit Erfolg: Von den knapp elf Millionen Griechen haben sich bisher, also seit März, etwa 34.000 Menschen mit Corona infiziert. Erst denken wir, dass sie vielleicht einfach nur weniger testen. Dann verwerfen wir diese Theorie wieder: Wenn hier im März oder jetzt die Krankenhäuser von einer Welle von Coronapatienten überschwemmt worden wären, dann wäre unabhängig von Testzahlen sichtbar geworden, wenn Infektionszahlen aus dem Ruder gelaufen wären. Das ist aber bisher nicht passiert, also haben sie es offenbar im Griff. Zum Vergleich: 287.000 Menschen sind bis heute in Deutschland an dem Virus erkrankt.
Dass die Griechen Corona ernst nehmen, und die Maßnahmen, die sie für Einreisende ankündigen, auch nachhalten (anders, als wir es auf Sardinien erfahren haben), merken wir direkt bei der Ankunft: Ich werde vom Zufallsgenerator für einen Coronatest auserkoren, und eine Krankenschwester in Vollschutz stochert mir unter freiem Himmel auf einem Stühlchen neben dem Hafenbecken bei Flutlicht im Hals herum – das ganze dauert drei Minuten, dann sagt sie „Goodbye“. Sollte das Testergebnis positiv sein, würde ich von der griechischen Regierung kontaktiert. Ein oder zwei Tage soll das dauern – da ich bis heute nichts gehört habe, gehe ich davon aus, dass der Test negativ war.
Standen am Abend unserer Ankunft nur wenige Fahrzeuge auf dem Parkplatz, füllt dieser sich am frühen nächsten Morgen rasant. Pendler parken ihre Autos hier, bevor sie mit einem Kaffeebecher in der Hand ins Büro entschwinden. Frauen ziehen mit Einkaufstaschen los, direkt neben uns halten zwei Taxifahrer ein Schwätzchen. An Schlaf ist nicht mehr zu denken. Schnell bauen Nico und ich unser Bett zusammen, schließen den Bus ab und gehen ein paar Schritte in Richtung der Cafés, die gestern Abend so verheißungsvoll aussahen. Direkt vor dem ersten setzen wir uns draußen in die Morgensonne und werden von einem jungen Kellner in fließendem Englisch bedient. Kaffee und frisch gepresster Orangensaft, geht’s besser? Wasser kommt eisgekühlt in einer Glaskaraffe umsonst auf den Tisch, wir beten, dass das zum griechischen Standard gehört.
Weiter geht’s zum Vodafone-Shop, wo wir für zwanzig Euro gerade einmal zehn Gigabyte Daten bekommen. Da war Italien großzügiger mit 100 Gigabyte für 26 Euro… Dann drehen wir eine Runde durch die Innenstadt – Nico braucht dringend einen Friseur – und genießen es, unter Menschen zu sein. Auch heute sind es keine übermäßig großen (= unvernünftigen) Menschenansammlungen. Aber es herrscht ein reges und entspanntes Treiben. Anders als in Italien wird hier im Epirus, der Region, zu der Igoumenitsa gehört, draußen nicht standardmäßig Maske getragen. Die griechische Regierung hat das Land nach einem Farbschema von Grün über Gelb und Orange bis Rot in Risikozonen eingeteilt, die Corona-Maßnahmen sind je nach Farbstatus strenger oder weniger streng. Wir befinden uns derzeit in einem gelben Gebiet, da herrscht draußen nur dann Maskenpflicht, wenn eine größere Gruppe beisammen ist und den Mindestabstand von zwei Metern nicht einhalten kann.
Wir haben gelesen, dass morgen Ochi-Tag ist, einer der beiden wichtigsten nationalen Feiertage in Griechenland. Das erklärt, warum so viele Schulkinder an einem Dienstagvormittag in der Innenstadt auf ihren Fahrrädern herumflitzen: Sie hatten heute nur bis 10 Uhr Schule wegen des Feiertags morgen, erklärt uns Nicos Friseur, der in Dortmund aufgewachsen ist und vor zwölf Jahren in die Heimatstadt seiner Eltern zurückkehrte, um hier einen Barbier-Laden zu eröffnen. Am Ochi-Tag, übersetzt „Nein“-Tag, erinnern sich die Griechen an den 28. Oktober 1940 – den Tag, an dem Griechenland ein Ultimatum des italienischen Diktators Mussolini ablehnte, den Achsenmächten zu erlauben, Truppen auf hellenischem Territorium zu stationieren. Das „Nein“ führte zum Griechisch-italienischen Krieg und schließlich zur Besetzung Griechenlands bis 1944. Die Griechen feiern aber bis heute ihren Widerstand gegen Mussolini. Normalerweise mit Paraden und Umzügen, „die müssen aber dieses Jahr wegen Corona ausfallen“, erklärt uns der Barbier.
Nur schwer können wir uns losreißen von unserem schlenderigen Morgen in Igoumenitsa. Dafür, dass diese Stadt weder besonders hübsch noch besonders touristisch ist und auch nur 25.000 Einwohner hat, gibt es hier verdammt viele verlockende Cafés und Geschäfte. Eine Wohltat, nachdem wir auf Sardinien wochenlang nur durch minikleine Ortschaften mit geschlossenen Restaurants und Fensterläden gekommen sind. Zum Übernachten ist Igoumenitsa aber nicht der richtige Ort für uns, daher fahren wir ein paar Kilometer weiter südlich nach Plataria. Hier habe ich bei Google einen der wenigen Campingplätze entdeckt, die überhaupt noch geöffnet sind: Das wollen wir nutzen, bevor sie alles für die Saison schließen. Als wir bei Elena’s Beach ankommen, stehen nur zwei weitere Camper auf dem bezaubernden, üppig bewachsenen Platz direkt am Meer. Der Campingplatzbetreiber begrüßt uns ebenfalls in fließendem Englisch – absolut jeder, mit dem wir heute Kontakt hatten, spricht Englisch. Was für ein Segen für uns, wo wir doch Griechisch noch viel weniger verstehen als Italienisch. Wir bauen zur Abwechslung mal wieder unser komplettes Camp auf, mit Markise, Lichterkette, Tisch und Stühlen. Darauf verzichten wir inzwischen, wenn wir irgendwo wild stehen – es geht ja auch mit kleinerem Gedeck. Jetzt aber genießen wir es, uns auszubreiten. Sitzen auf dem Mäuerchen am Rand unseres Stellplatzes und schauen aufs Meer. Lassen uns die Sonne ins Gesicht scheinen – und köpfen die Flasche Champagner, die wir seit sechs Wochen gut gekühlt mit uns herumfahren. Mein Chef hat sie mir in meiner letzten Arbeitswoche geschenkt und ich hatte mir vorgenommen, mit ihr den Beginn unserer Reise zu feiern. Dann war mir aber all die Wochen gar nicht nach Feiern – an unserem ersten richtigen Tag in Griechenland nun fühlt es sich endlich so an, als würde diese Reise wirklich beginnen. Das ist allemal einen Flasche Champagner wert!
Heute, zwei Tage später, sitzen wir immer noch an Elena’s Beach. Und sind immer noch verliebt in Griechenland. Der Blick über die Bucht hat nichts von seinem Reiz verloren, ich freue mich jetzt schon auf den nächsten spektakulären Sonnenuntergang. Aber noch strahlt die Sonne aus einem blitzblauen Himmel, es sind 22 Grad, und der dicke Eukalyptusbaum vor unserem Bus wirft willkommenen Schatten. Neben mir räkelt sich eine hübsche getigerte Katze: Ich habe sie gestern Abend mit einer Dose Thunfisch bestochen, jetzt lässt sie sich dann und wann zu einem kurzen Besuch bei uns herab. Nico befreit unserer Fahrräder vom Rost von sechs Wochen Seeluft – vielleicht drehen wir ja bei Gelegenheit endlich mal eine Runde? Vielleicht. Wir haben es nicht eilig, hier wegzukommen. Vielleicht morgen? Oder übermorgen? Mal sehen.